Die Wand

Die Corona-Wand, die sich derzeit aufbaut, ist aus Luft. Sie ist These, aber auch Antithese in einem. Sie kommt, obwohl es sie nicht gibt. (Der Text erschien am 15.1.2022 in der taz, die Tageszeitung.)

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Da warten wir, warten auf die Wand. Sie kommt von allen Seiten, baut sich vor jedem auf, umschließt alle. Lässt niemanden durch.

„Da kommt keine Welle, sondern eine Wand“, hatte Christian Endt, ein Datenjournalist der Zeit, Mitte Dezember auf Twitter geschrieben. Und verschiedene Modelle gezeigt, wie sich die Wand entwickeln könnte. Wenn eine infizierte Person zweieinhalb Personen oder gar drei weitere ansteckt, geht es steil nach oben. Der Virologe Christian Drosten hat das Bild von der Wand aufgegriffen, den Tweet geteilt. Seine Stimme zählt. Seitdem warten wir. Die Wand braucht etwas länger als angekündigt. Aber sie kommt. In Bremen, dem Land mit den meisten Geimpften, stand die Inzidenz am Freitag schon bei über 1.500. Und die Weltgesundheitsbehörde WHO schätzt, dass sich im März die Hälfte aller Menschen in Europa mit Corona angesteckt haben könnte. Das wären um die 370 Millionen.

Wenn eine Person eine weitere ansteckt und diese auch eine weitere und immer fort, dann addiert sich das einfach: 1+1=2 / 2+1=3 / 3+1=4 / 4+1=5 / 5+1=6 / 6+1=7 Nach sechs Infektionsschritten haben sich insgesamt sieben Personen infiziert.

Wenn eine Person in der gleichen Zeit wie zuvor zwei weitere ansteckt und diese jeweils auch zwei und immer fort, dann haben sich nach sechs Infektionsschritten dagegen bereits insgesamt 127 Menschen infiziert. Rechnen Sie nach!

Wenn eine Person in der gleichen Zeit sogar drei andere ansteckt und diese jeweils auch drei weitere, dann haben sich nach sechs Infektionsschritten insgesamt 1.093 Personen infiziert. Im nächsten Schritt wären es 3.280 und danach 9.841.

Sehen Sie, wie rasant das aufsteigt? Bald lässt sich das nicht mehr in einem Diagramm abbilden, wo Fallzahlen in Relation zur Zeit stehen, weil die Zahl der Fälle über den Blattrand hinausreicht, und dann über die Zimmerhöhe, über die Hochhaushöhe, über die Zugspitze. Dann ist die Wand da. Das Wort beschreibt diesen steil nach oben rasenden Strich im Diagramm, der an sich keine Wand ist, nur im metaphorischen Sinne; eine Wand, die wir aber trotzdem physisch erwarten.

(Mit den Ma­the­ma­ti­ke­r*in­nen muss übrigens niemand ein Bedauern haben. Sie haben ihre Tricks, um die rasante Zunahme wieder auf einem Blatt abzubilden. Mit Logarithmen etwa.)

Eigentlich sollte eine Wand doch schützen

Das Bild von der Wand verschwindet nicht mehr. Sie baut sich schnell auf. Sie ist unüberwindbar hoch. Sie wirft uns zurück. Sie setzt Urängste frei. Was ist die Wand? Ein Tsunami? Ein Gefängnis? Ein Trauma? Trennung und Isolation? Eigentlich sollte eine Wand doch schützen, aber von dieser geht Gefahr aus.

„Uns geht es gut; ansonsten warten wir auf die Wand“, schrieb eine Freundin in ihrem Neujahrsgruß. Welche Wand meint sie?

Vielleicht hilft ein Blick auf Wikipedia weiter.

Wand (ahd. „das Gewundene, Geflochtene“ zu want „winden“) bezeichnet:

– eine Fläche, die einen Hohlraum abgrenzt

– ein senkrechtes Bauteil, dessen Ausdehnung in der Länge und Höhe sehr viel größer ist als in der Tiefe

– in der Anatomie trennende Häute

– eine steile geomorphologische Struktur freiliegenden Gesteins, die Felswand

– im Bergbau ein größeres abgetrenntes Gesteinsstück

– in der Meteorologie breite, scharfbegrenzte Wolkenformationen

„Die Wand“, der Roman von Marlen Haushofer, wird auf Wikipedia ebenfalls aufgeführt.

Die Tsunami-Wand allerdings fehlt dort noch. „Ich habe zurückgeschaut und sah diese Wand auf mich zukommen. Eine Welle war es ja weniger als eine echte Wand aus Wasser. Ich habe dann noch gehört, wie die Druckwelle der Wassermassen die Fenster aus den Rahmen sprengte. Dann sackte mir der Boden unter den Füßen weg. Ich dachte: Jetzt muss ich sterben.“ So schildert Anita Moor, wie sie den Tsunami 2004 auf Khao Lak in Thailand überlebte. Eine Wand aus Wasser war es.

Was, wenn die imaginierte Wand real ist?

Auch die Coronawand, die eine Wand aus Luft ist, fehlt bisher auf Wikipedia und auch im Duden.

Diese doch eigentlich metaphorische Wand, sie ist ja nicht real, trennt nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit. Da ist nicht nur ein Dahinter und Davor, wie es bei einer Wand anzunehmen wäre, sondern auch ein Zuvor und Danach. Nach dem Tsunami. Nach Corona. Nach der Wand. Als ändere sich das Leben im Angesicht der Wand. Als würde man zurückgeworfen auf ein Innen, wie immer das auch aussähe – und das je nach Perspektive auch ein Außen, ein Jenseits der Wand sein kann. Denn wer weiß das schon, wer weiß, was hinter der Wand ist. Wer weiß, wo hinter und wo vor der Wand ist.

Nur um das zu verdeutlichen: Auch die Berliner Mauer war so eine Wand, wo Innen und Außen sich vertauschten. Die in Westberlin dachten, sie wären außen – wegen der Demokratie, der Konsum-, der Reisefreiheit und so, und sie dachten weiter, dass die, die in DDR lebten, drin gefangen seien. Geografisch, und also auch faktisch, saßen die Westberliner jedoch drinnen. Die reale Wand behandelten sie wie eine Schimäre, ein Trugbild.

Was aber, wenn die imaginierte Wand real ist?

An der Stelle wird Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ interessant. Da wacht eine Frau an einem Maimorgen in einer Jagdhütte auf, und als sie ins Dorf will, stößt sie an eine unsichtbare Wand. „Ich hatte mich davon überzeugt, dass über Nacht eine unsichtbare Wand niedergegangen oder aufgewachsen war, und es war mir in meiner Lage ganz unmöglich, eine Erklärung dafür zu finden“, schreibt die Hauptfigur in ihren Notizen. Durch die Wand ist sie vom Rest der Welt getrennt. Wenn sie dagegen anrennt, verletzt sie sich.

Fortan werden Tiere ihre Gefährten. Der Jagdhund, eine trächtige Kuh, eine Katze, die, wie sie, im von der Wand umgebenen Areal gefangen sind. Außerhalb der Wand scheint alles erstarrt, wie eingefroren, auch die Menschen. Die Protagonistin sieht es durchs Fernglas.

Die Coronawand ist aus Luft und doch wirkmächtig

Das Buch wirkt wie eine Parabel auf das, was in der Pandemie geschieht: Kontrollverlust, Isolation, Depression, Erstarrung. „Etwas wie die Wand durfte es einfach nicht geben“, schreibt die Protagonistin. Selbst die Ängste, die Paranoia, die viele Querdenkende plagt, befällt sie: „Über die Wand zerbrach ich mir nicht allzu sehr den Kopf. Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheimzuhalten einer der Großmächte gelungen war.“

Im Laufe des Buches schreibt sie über ihre mühsamen Versuche, sich am Leben zu halten, schreibt über den Alltag, die Versorgung der Tiere, die Ernährung, die Arbeit, die Müdigkeit; sie existiert nur noch. Es ist tiefste Depression. Der Zugang nach außen ist ihr versperrt. Sie erwartet nicht, dass der Zustand sich auflöst, dass die Wand verschwindet, und doch macht genau diese Hoffnung das Buch spannend.

Dann taucht tatsächlich ein anderer Mensch auf. Mit einer Axt. Er tötet zwei ihrer Tiere. Sie erschießt ihn. Im Angesicht der Angst übernimmt nicht bloß Irrationalität, sondern Gewalt. Als ginge es ums nackte Überleben.

Was Angst macht

Wie, so lautet also die Frage, gehen wir mit dem um, was Angst macht? Diese Pandemie, die uns zurückwirft auf uns, die uns mitunter in die Isolation zwingt. Wie mit der Depression? Wie mit dieser Wand, die sich auftürmt und von der niemand weiß, was dahinter oder davor ist?

Darauf aber gibt es nicht eine Antwort. Manche betrachten mit Neugier die Entwicklung. Die meisten allerdings akzeptieren die neue Realität, richten sich an ihr aus, sorgen vor. Der Kontrollverlust treibt sie nicht in Parallelwelten.

Einige jedoch können mit dem Kontrollverlust nicht umgehen, negieren die Realität, suchen neue Wahrheiten, die sie zu kontrollieren meinen, eine neue Welt, in der sie, wenn nicht gottgleich, so doch missionarisch, den rechten Weg predigen, mitunter mit Gewalt.

Die Pandemie zeigt, wie Extremsituationen auf die Menschen wirken. Was die Angst mit ihnen macht. Dieses übergroße Monster. Dafür steht die Wand. Sie ist These und Antithese zugleich. Sie kommt, obwohl es sie nicht gibt.