„Ich liebe ihn mehr“

Am 8. Dezember 2022 ist Aldona Gustas gestorben. Sie war Lyrikerin und Malerin. Ich hatte das Glück, sie mehrfach besuchen zu können und über sie zu schreiben. Ihr Buch „Untoter“, in dem sie ihrem Mann eine Totenklage zu Lebzeiten schrieb, hat mir von all ihren Büchern am besten gefallen. Hier mein Text darüber, der im Jahr 2012 in der taz erschien.

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Wenn Aldona Gustas Worte sagt, die berühren – „Küsse“ etwa oder „Tränen“ –, hebt sie die Hände und Arme in die Luft, als wären Arme und Hände schon Flügel. Was sie sagt, soll im Fliegen gesprochen sein. Im Wegfliegen – halb da unten am Tisch in ihrem winzigen Wohnzimmer, wo sie schreibt und malt, oder geschrieben und gemalt hat, halb dort oben unter der Decke, von wo alles schon weggerückt ist, aber noch nah. Sie will die Schwere überwinden, weil sie über den Tod spricht. Nicht ihren eigenen. Noch nicht.

An dem kleinen Tisch in ihrem Wohnzimmer in Berlin sitzt Gustas. Rechts und links Regale mit Büchern. An den Wänden ihre Bilder. Mit Frauengestalten, Vogelmenschen, Fischwesen. Dazwischen Engel. Mit Engelshaar wie ihrem, das ihr grau und lang ins Gesicht hängt. Weil Grauhaarige meist kurze Haare tragen, lasse sie sie lang. „Immer muss ich dagegen sein“, sagt sie. Um sich vom endlos langen Sterben zu erholen, erfindet sich Gustas, bald achtzigjährig, jetzt neu.

Das Sterben begann, als ein anderer, Georg Holmsten hieß er, 86 Jahre alt war. An einem warmen Tag passierte es. Auf einer Bank im Berliner Kleistpark ergriff den alten Mann das Unaussprechliche: die Angst zu fallen. Nicht auf den Boden, der war grün und sommerhaft weich, mit weißen Gänseblümchen und gelben Butterblumen. Seine Angst zu fallen war größer. Es war die Panik, er könne in die Unendlichkeit fallen, das schwarze Loch, eine Leere, die ihm die Luft nahm, ein Nichts, das ihn umschlingen wollte und ihn mehr gelähmt als lebendig zurückließ.

Wie Holmsten an jenem Tag nach Hause kam, habe er nicht mehr gewusst, erzählt Aldona Gustas, deren eigene Lebenshöhepunkte bis zu diesem Moment in ein einstrophiges Gedicht gepasst hatten: „ich war lange 1932 / ich war lange 1945 / ich war lange 1952 / ich war lange 1962 / ich war lange 1972 / in den Jahren dazwischen / lebte ich kurz“ – Nach Holmstens Angstfall aber kommt ihre längste Zeit. Elf Jahre und eine Ewigkeit dauert sie. Gustas ist Holmstens Frau.

Seit jenem Sommertag im Jahr 1999 war Holmsten krank. Angstkrank. Schon der Blick aus dem Fenster war ein Wagnis, das er nicht eingehen konnte, „die Schwelle ein Berg, der Balkon Afrika“, sagt Aldona Gustas. Sie hat ihn gehalten. All die Jahre seiner Krankheit. Immer. Auch, als er anfing zu vergessen. Fremde, die in die kleine Wohnung kamen, um Gustas zu besuchen, mied er und blieb in seinem Zimmer. Freunde konnten ihn nicht retten. Sein Einssein mit der Angst vor dem Fallen teilte er nur mit ihr. Das war die Liebe. 2010 stirbt er, mit 97. „Ich habe so viel geweint“, erzählt sie. „Ich liebe ihn auch heute. Ich liebe ihn mehr.“ Kurz bevor er starb, schrieb sie: „aus den Händen der Kirschen / gab ich dir das Versprechen / dich auch als Toten zu lieben“.

Gustas ist eine große Liebende. Ob im Leben oder in Worten. Mit neun Jahren habe sie das körperliche Aussichsein kennengelernt, sagt Gustas. Zbigniew, ein polnischer Junge, etwas älter als sie, habe sie dahin geführt, als ihre Eltern abends einmal aus waren. Er habe es auf eine Weise getan, die sie nicht verletzte.

Noch in Litauen war es, wo Polen, Deutsche, Litauer, Juden, Russen miteinander lebten wie später nicht mehr. „Ich war ein Lolita-Typ“, sagt sie. „Erotomanin“, sagt sie auch. „Ich habe alle Arten der Liebe kennengelernt.“ Die Macht des Körpers und zuletzt, als Holmsten alt und dann krank war, vor allem die Macht der Seele, der Psyche. „Diese Umarmung, die ohne Sex passiert, ist stark. Man fällt nicht in die Leere“, sagt sie. „vor Jahren liebten wir uns hier / mit Biß und Kuß näher als nah / warst du mir vorhin / auf Zungenserpentinen denke ich / was nicht vergessen wird“, schreibt sie.

Wenn Gustas über Sex spricht, wirkt sie spröde. Das Erotische – nur eine Drehung des Körpers. Eine Wendung der Augen. Ein nicht ausgesprochenes Wort. Auch die Poesie gehorcht ihr: „mit Wortflora hast du mich geweckt / eine MundzuMundBeatmung / wäre mir lieber“ – Punkte setzt sie nie.

Jahreszahlen aber sind ihre Markierungen. 1945 erwähnte sie in ihrem biografischen Gedicht. Damals erreichte sie dreizehnjährig auf ihrem Fluchtweg Berlin. Sofort fühlte sie sich von den zerbombten Mauern empfangen. Sie sieht in Berlin mehr als das Zerstörte. Nie mehr will sie an einem anderen Ort leben.

Dann, 1952, lernte sie Holmsten kennen. Fast zwanzig Jahre älter ist er. Aus dem Baltikum wie sie. Und Berlin nicht weniger verfallen. „Ich war auf der Suche und wusste nicht, wonach.“ Holmsten habe ihr gezeigt, was sie hinterherjagte: der Poesie. Zur Wortsammlerin von Bildern wird sie, in denen „Wolkenfischer“ und „Schneeflockenjongleure“ den „Mundhimmel“ putzen. Bombastisch? Nein. Trotz solcher Worte, die sie erfindet, sind die Sätze, in die sie sie einfügt, alltäglich wie das Glas Wasser, das auf der blauen Wachstuchdecke mit den roten Äpfeln vor ihr auf dem Tisch steht. 1962 kommt ihr erster Gedichtband heraus.

Sie ist Lyrikerin und Malerin. Holmsten Chronist und Journalist. Schriftsteller auch. Er hat historische Romane und Monografien verfasst, über Friedrich den Großen, Voltaire, Rousseau, Elisabeth von Österreich. Er war am Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligt. Hätte es geklappt, hätte er über den Rundfunk Verstärkung organisiert. „Er wartete auf den Befehl. Der ist nicht gekommen“, erzählt Gustas. Holmsten ist nach dem missglückten Attentat als Sanitäter untergetaucht. Traumatisches hat er erlebt. Es gibt Bücher von ihm darüber. Die Toten. Die Verstümmelten. Das Blut. „Im Rucksack schleppte er einen Soldaten, blind, ohne Beine, ohne Arme, um ihn seiner Mutter in Herford zu übergeben“, erzählt Gustas.

Wenn sie später – selten zwar – an Herford vorbeifuhren, seien diese Bilder wieder da gewesen. Als die Angst kam, am Ende seines Lebens, da hätte sich das alte Entsetzen vor alles geschoben.

Gustas’ Poesie, die in ihrer erotischen Beiläufigkeit etwas Fliehendes hat, verändert sich unter der Härte, die sie trifft, als Holmsten krank wird. Je weiter sein Todesversinken geht, desto radikaler werden ihre Worte. Mit ihnen seziert sie die winzigen Spuren des Lebens, die noch in ihm stecken. „du als Wolkenfischer als Schneeflockenjongleur / wie willst du das leisten / ohne mein Herzklopfen als Ansporn“.

In diesen letzten Jahren entsteht ihre Totenklage an einen Untoten. Strophe an Strophe reiht sie. Jede Strophe eine Hymne. Siebenhundert ungefähr. Da Gustas keine Seitenzahlen, keine Punkte, keine Kommas benutzt – „das wäre für mich wie ein Stottern“ –, ist die genaue Zahl unwichtig. Keine Strophe muss als Fortsetzung der vorherigen gelesen werden. Zuerst gelingt es ihr, selbst im Abwesenden noch der Extase nachzuspüren. Nach und nach werden die Gedichte jedoch drängender, klarer. „zu früh zu zeitig dir zu sagen / dass dein Tod ein Lebewesen ist“.

„Rede- und Suchgedichte“ nennt sie ihre Totenklage – ein radikales Buch, in dem Sprachvirtuosität und Verzweiflung verschmelzen. Weil Holmsten sein ganzes Leben lang zeichnen wollte, es aber nie tat, gibt sie ihm nun einen Stift in die Hand. Mit zittrigem Strich bildet er das Unsagbare ab, das ihn bedroht. Oft wird seine krakelige Unterschrift zum Grundstrich seiner Zeichnungen. Solange er „Georg Holmsten“ schreiben kann, existiert er. Aldona Gustas hat ihm versprochen, dass sie das Buch mit ihren Gedichten und seinen Zeichnungen nach seinem Tod herausgeben würde. Es ist ihr Vermächtnis an den Toten. Ihn wiederum hat sie vor seinem Tod gebeten, ihr aus dem Jenseits Zeichen zu geben. Und sie findet sie. In dem Falter etwa, der in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli 2010, als Holmsten starb, ins Zimmer hinein- und mit seiner Seele im Schlepptau wieder hinausflog. So hat sie es erlebt.

Eineinhalb Jahre nach dem Tod ihres Mannes, mit dem sie 58 Jahre verheiratet war, wirkt sie größer als früher. Härter und weicher zugleich. Ihr ledriger Körper hat jene Dehnung, jene Hinwendung zur Maskulinität, als wäre sie nun Frau und Mann. Aldona und Georg. Eine größere Verschmelzung ist unmöglich. „Ich bin jetzt frei“, sagt sie. Das heißt auch, dass es jetzt nichts mehr gibt, was sie hält. Sie wollte nie Kinder. Verwandte hat sie keine. Wenn sie nicht mehr könne, ginge sie. „Ins Wasser.“ Wie man das macht, sich zum Ertrinken zu bringen? „Indem man loslässt“, antwortet sie. Es sei ganz leicht. Schon einmal hätte sie es getan. 1949. Ein Junge hätte sie damals aus dem Grunewaldsee gezogen.

Die letzte Strophe ihrer Totenklage: „Nicht sein / zu Wasser / zu Lande“.

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