„Ja, am 20. April“
Veränderungen in der Gesellschaft zeigen sich oft nur langsam. Hier ein Versuch aufzuschreiben, wie die Rechten die Gesellschaft ändern und damit auch uns.
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Neulich auf einer sonnenbeschienenen Parkbank vor dem Rathaus eines Dorfes im Schwarzwald: Eine Frau setzt sich dazu. Die Knie tun ihr weh. Eigentlich stehe eine OP an, sie will aber nicht, abnehmen müsste sie und die Jüngste sei sie nicht mehr. Welcher Jahrgang sie ist, frage ich. 1954. „Dann werden Sie siebzig.“ Sie: „Ja, am 20. April.“ Ich sofort: „An Hitlers Geburtstag.“ Sie: „Lassen Sie mich in Ruhe, mit dem habe ich nichts zu tun.“ Ich lasse nicht locker. „Immer mehr wollen wieder was damit zu tun haben.“ „Schlimm ist das“, sagt sie, „aber ich kann nichts für den Tag, an dem ich geboren bin.“
Ich habe ihr Geburtsdatum absichtlich benutzt, um abzuchecken, wo sie politisch steht. Erst dann kann ich unbefangen mit ihr reden. Ich bin öfters im Dorf und werde ihr vermutlich wieder über den Weg laufen.
Wenn fünf Leute zusammenstehen, wählt statistisch einer oder eine AfD, in Sachsen und Sachsen-Anhalt Umfragen zufolge sogar einer von dreien. Das ist die Ausgangslage. Im Gespräch mit Fremden will ich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Denn das beeinflusst den Fortgang der Unterhaltung. Und da liegt die Krux, denn Alltagsgespräche sind eigentlich spontan und hierarchiefrei. Neuerdings jedoch nicht mehr. Denn wer erst herausfinden will (oder muss), wo das Gegenüber politisch steht, sprengt die stillschweigend eingegangenen Regeln des Smalltalks.
Eine andere Situation: Bei einem Spaziergang mit meiner Freundin kommen wir ins Gespräch mit einem Mann, der Baumstämme an seinen Traktor anhängt und aus dem Wald zieht. Ob es Sturmschäden seien? „Nein, der Borkenkäfer“, sagt er. „Die sehen doch ganz gesund aus“, interveniere ich. Er deutet auf die Stämme der noch stehenden Tannen, „Sehen Sie, überall fehlt die Rinde.“ Und nach einer Pause, in der er uns mustert: „Es ist der Klimawandel.“
Zu lange Pausen sind eine Wegscheide in Alltagsgesprächen, sagen Kommunikationsforscher. Dadurch entstehe eine ungleichgewichtige Situation. Uns war sofort klar: Der Mann checkt uns. Aber wir sind d’accord. Leugnen nicht, dass es immer wärmer wird.
Wie wäre das Gespräch verlaufen, frage ich meine Freundin, als wir weitergehen, wenn wir geantwortet hätten: „Früher gab es den Borkenkäfer doch auch, was hat das mit Klimawandel zu tun? Der Klimawandel ist eine Lüge der Grünen“?
Die beiden Episoden sind nicht die einzigen, bei denen mir, aber auch den Kolleg*innen, mit denen ich darüber gesprochen habe, auffällt, dass ein Gespräch mit Fremden mitunter auf Themen gelenkt wird, an denen sich die beiden Seiten der sich radikalisierenden Gesellschaft manifestieren. Weil man wissen will, wo der andere steht, um die Gesprächsstrategien anzupassen.
Wenn es einen Indikator braucht, um zu zeigen, dass sich die Gesellschaft verändert, dass sie in Lager zerfällt, zwischen denen die Kommunikation unterbrochen, wenn nicht gar vergiftet ist, dass sich Gräben zwischen den Lagern auftun, die unüberbrückbar sind, hier also ist einer.
Dies aber verändert, wie wir miteinander umgehen. Als wäre die Unschuldsvermutung bei einer Begegnung mit Fremden dahin. Und mit ihr die Leichtigkeit, die Unbefangenheit, die Selbstverständlichkeit.
Etwas hat sich verändert, es ist unbemerkt in unser Alltagsverhalten geschlichen, wie ein Dieb, der nachts einbricht. Und der Verlust, der droht, kündigt sich schon an. Wie kürzlich auf einer Demo gegen rechts in Neuruppin: Eine Freundin, die wir dort begleiten, verteilt Aufkleber, auf denen Erich Kästner zitiert wird, der mahnt, dass Diktaturen nur bekämpft werden können, solange sie nicht an der Macht sind. „Darf ich Ihnen das geben?“, fragt meine Freundin eine Zuschauerin. „Ach, lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrer Demokratie“, antwortet diese.
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Der Text erschien am 13.4.2024 in der taz.