Mit den Gedanken fliegen

Am Montag, dem 22. Januar 2024 ist die Schriftstellerin und Lyrikerin Elke Erb gestorben. Anlässlich ihres 80. Geburtstags am 18. Februar 2018 habe ich sie besucht und sie porträtiert für die taz in diesem Format, das Hausbesuch heißt.

Elke Erb an ihrem Küchentisch;  Foto: Dagmar Morath

In ihrer Erdgeschosswohnung im Berliner Hinterhaus wirken Worte so, als wären sie die Wände, an denen sich die Lyrikerin Elke Erb orientiert. „Für das, was sonst beim Zurechtfinden hilft, brauche ich Geduld“, sagt sie.

Draußen: In der Schwedenstraße im Stadtteil Wedding herrscht Großstadtdeprivation, untermalt von hupenden Autos, Martinshörnern, Flugzeuglärm. Bunt ist nur das Lichtgeklimper der Casinos, daneben sind Imbisse, verstaubte Versicherungsbuden, Handy-Shops. Das Highlight: die orientalischen Süßigkeiten bei Al-Iman. Baklava und Mamul sind „cok nefis“ – sehr köstlich – „delicious indeed“.

Drinnen: Eine Wortgewaltige lebt in dinggewaltigen Räumen. „Ich bin doch nicht gewaltig“, sagt sie. Überall Papierberge, Fotos, Notizen, Bücherstapel, Bücherwände, Bücherschränke, Kinderzeichnungen ihres Sohnes, Bilder, Erinnerungen, vergilbte Plakate, Plural, Plural, Koffer, ein Fahrrad, die Dielen rot wie Ochsenblut, geraucht wird auch. Alles, was gebraucht wird, um mit Worten umzugehen, gibt es im Überfluss.

Herkunft: Elke Erb wurde am 18. Februar 1938 in einem Eifeldorf geboren. (Bald wird sie achtzig.) „Fünf Häuser nur“, sagt sie, waren dort, wo sie die ersten elf Jahre verbrachte. Später wird sie sagen, dass sie die Bundesrepublik nicht kritisieren konnte, sie kannte ja nur dieses Dorf und Erinnerungen seien auch so eine komische Sache. Sie erinnert sich zum Beispiel, dass der Freiherr von Sturm und Felseneck für die Konstruktion des Daches ihres Hauses zuständig war, „das fand ich lustig, weil der Name so passte“.

Die Mutter: Elke Erb erinnert sich, dass ihre Mutter eigentlich Nonne werden sollte, wie zwei ihrer Tanten. Aber im Refektorium hätte sie gelacht. Zur Strafe musste sie auf Glasscherben knien. Das habe sie bekehrt – in eine andere Richtung.

Der Vater: Er wiederum habe Theologie studiert, sich mit den Apokryphen beschäftigt und dann aufgehängt ob der Glaubenszweifel. Er wurde gerettet, kam in eine katholische Nervenklinik, wurde für verrückt erklärt und schaffte es, da wegzukommen, erzählt Erb . Danach habe sein Leben neu angefangen, er studierte „Geschichte, Völkerkunde, Mittelhochdeutsch“, war im Krieg Soldat, kam kurz vor Kriegsende vors Kriegsgericht wegen Wehrkraftzersetzung und „zum Glück“ dann in britische Gefangenschaft. Nach dem Krieg ging er in die neu gegründete DDR, „meine Eltern waren so kommunistisch drauf“, und holte Frau und Kinder bald nach. In Halle an der Saale kam die Familie unter.

Was bleibt von den Eltern: Fotos und Sätze. Erb erinnert sich, dass ihre Mutter einmal zu einer Freundin gesagt habe: „Elke ist der seltsamste Mensch, den ich kenne.“

Elke Erb mit einem ihrer Tagebücher; Foto: Dagmar Morath

Der Anfang des Schreibens: „Wissen Sie, wie das anfing mit dem Schreiben? Nein?“ Und dann erzählt sie, dass sie ja in der DDR aufgewachsen sei und glücklich dort war. Sie dachte, sie sei mit dem Sozialismus identisch. „Aber mit dem Sozialismus ging’s schief.“ Um zu ergründen, warum, habe sie angefangen, Tagebuch zu schreiben. Dabei merkte sie, dass sie beim Schreiben Subjekt ist, und verstand: Der Sozialismus klappte nicht, weil der Mensch dort mehr als Objekt gehandelt wird. „Wer will das schon?“ Also ist sie beim Schreiben geblieben, denn es gehe ja „um die Rettung des Ichs vor der Gesellschaft“.

Tagebücher: Sie empfiehlt allen, Tagebuch zu schreiben, „dann sehen Sie, was Sie denken“. Derzeit bearbeitet sie ihre, weil alles ins Archiv soll. Beim Abschreiben sah sie, dass sie klug ist, „das hatte ich gar nicht gewusst“, und dass sie Humor hat – weil sie mit ihren Gedanken fliegen kann. Eine Probe? Da, ein Buch wird aufgeschlagen, der Finger fällt auf diese Stelle: „Schelte, als bellte im Nachbarhof der Hund. (Welcher Hof, welcher Hund? Eine Sache mit Grund.)“

Das Schreiben als Beruf: Elke Erb hat auf Lehramt studiert, und gab es auf. „Zu viel Drill.“ Was sie dann war und ist: Wortarbeiterin, freischaffend seit 1966. Die Lyrik ist ihre Passion. Passion, also: Leidenschaft und Leidensweg? Sie widerspricht: „Es ist Leidenschaft und Weg.“

Leidenschaft: Geht es bei Lyrik darum, etwas tief zu sagen? „Ich protestiere gegen das Wort ‚tief‘“, sagt sie, „es geht um Poesie.“ Ihre Leidenschaft lässt sie zwischen „Kram-Gedanken“ und „Brombeerranken“ die Welt entwerfen: „Ich lag und sann, da kamen Kram-Gedanken. / Natürlich ist es recht, den Kram im Kopf zu haben. / So hältst die Sterne du in ihren Bahnen. / Statt aus der Welt heraus zu existieren / und fremd zu sein wie dir mehr als den Tieren. / Laß deinen Kram wie Himmelskörper strahlen / und denke dir zum Abschluß Brombeerranken.“ Wikipedia zählt 25 Bücher von ihr auf.

Weg: „Ich bin nicht ehrgeizig“ sei ein Satz, der in ihren Tagebüchern oft stehe. Aber: Ist das nicht eine Voraussetzung, um überhaupt Gedichte schreiben zu können? Denn Erb musste nicht nur ertragen, dass ihre Mutter sie nicht versteht. „Auch in der DDR galt ich die längste Zeit als unverständlich.“ Im Kapitalismus nach der Wende wurde dann noch deutlich: Mit Lyrik kann man die Miete nicht bezahlen. Wovon sie jetzt mit fast 80 lebt? „Ich weiß es bei Gott nicht.“ Fragt sich also: Wofür hatte sie keinen Ehrgeiz? Fürs Groß-Rauskommen wahrscheinlich. Wahnsinnigen Ehrgeiz jedoch entwickelte sie dabei, alles aus Worten herauszuholen. Neben den eigenen Gedichten hat sie auch Poesie übersetzt – vor allem aus dem Russischen.

Übersetzen: In der DDR musste sie Russisch lernen. „Ich war schockiert, als ich das Wort ‚kto‘ hörte und dass das „wer“ bedeutet. Das soll eine Sprache sein?“ Die Verwunderung hat sich gegeben. Mit der Zeile „Feuerscheite tanzen Feuerbeine“ habe die Übersetzerei begonnen. Die Zeile sei ihr doch recht gut gelungen, meint sie. „Von wem die war, weiß ich nicht mehr.“

Marina Zwetajewa: Elke Erb war eine der Ersten, die Gedichte der russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa übersetzte. Sie habe gelernt von ihr: „Bei Marina hab ich viel gekämpft, weil sie so streng ist, strikt, sehr gespannt.“ Aber Übersetzen sei wie Kaninchen füttern. „Ich habe die Kaninchen gerne gefüttert. Diese Fürsorglichkeit, wenn man Löwenzahn sucht für sie.“ Löwenzahn suchen – Worte suchen. Trotzdem: „Ich war hilflos, oft hilflos, wie kriegst du das hin.“

Elke Erb; Foto: Dagmar Morath

Wortfindungsstörungen: Sie muss jetzt immer öfter fragen, wie heißt das, wie sagt man dazu, erzählt Elke Erb . Sie meint nicht die neuen Worte, die sie bildet, die Worterfindungen – „Kram-Gedanken, das ist ja nicht Gedankenkram“ – sie meint das Alte. Da, die Espressomaschine etwa, die auf ihrem Küchenschrank steht, kommt ihr fremd vor, „ich wusste gar nicht, dass ich die habe“.

Das Vergessen: Eine, die nicht verstanden wird, wird leicht vergessen. Dem kommt Elke Erb jetzt zuvor. „Wo war ich? Was wollte ich?“ Vergesslichkeit – alles noch im Rahmen. „Wie das begann mit der Vergesslichkeit, habe ich gefragt: ‚Haben die gesiegt oder ich?‘“ Sie kämpft dagegen an: „Ich diszipliniere mich unglaublich.“ Und dann fragt sie noch: „Ist es anstrengend, mit mir zu reden? Tut das weh irgendwo?“