Eine, die aufbrach

Was wären wir, ohne Frauen, die für unsere Rechte gekämpft haben. Am 3. April 2017 hat eine von Ihnen Geburtstag. Ich war auf der Suche nach ihr.

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Sie heißt Mathilde Franziska Anneke und ist verschwunden. In Münster, in der Neubrückenstraße 7, hat sie gelebt – vor fast 170 Jahren. Da hieß sie noch Mathilde von Tabouillot, war aber bereits in den aus dem preußischen Militär entlassenen Fritz Anneke verliebt, der den undemokratischen Monarchismus kritisierte.

Auch schrieb sie keine Gebetbücher mehr, um sich und ihre Tochter über Wasser zu halten. Im Gegenteil: „Götter, die der Mensch in seiner Not erschuf“, nennt sie nun, was ihr einst Trost und einen Hungerlohn gab. Stattdessen schreibt sie Artikel, in denen sie Gerechtigkeit für alle fordert, Artikel, die kirchenkritisch sind, die die Rechte der Frauen anmahnen. (Oh, anmahnen? Warum im Präsens? – Weil die Abwesenheit dieser Mathilde bis in die Gegenwart reicht, sonst müsste man sie nicht suchen.)

 

Die Frau, kaum 30 Jahre, über 1,80 Meter groß, taucht in Münster ein in Clubs, wo man Gleichheit und Freiheit fordert, das Presse- und Versammlungsverbot abgeschafft sehen will und eine Volksregierung diskutiert (gewählt von Männern, leider). „Neue Schreier“ werden die Regimekritiker genannt, manchmal auch „Communisten“, ein neues Wort.

Es gibt ein Foto von der Neubrückenstraße, nicht ganz so alt wie die gesuchte Frau, aber doch so, dass der Buchhändler, der dort einen Laden – die Schatz­insel – hat, die Arkaden in der Bogenstraße erkennt, von der die Neubrückenstraße abgeht. Er geht einen Schritt auf die Straße, dreht das Foto so, dass er den gleichen Blick auf die Arkaden hat, „an der Ecke ist die 9“, sagt er, dann sei die 7 da, wo die alte Kirche steht. Es ist verwirrend.

Am Ende meint der Buchhändler, die Häuser könnten früher so schmal gewesen sein, dass sieben davon hinpassten, und mit der alten Nummerierung hatte die Kirche dann die 8. Ob er Mathilde Franziska Anneke denn kennt? Erst „nein“, dann „ja“, dann: „Es gibt einen Mathilde-Anneke-Weg in Münster.“ Und? Ihm fällt das Bild einer Reiterin ein, die an den Revolutionskämpfen 1849 in Baden und der Pfalz teilnahm. Bauern und Freischärler gegen zehnmal so viele Preußen, deren Pickelhauben die Sonne reflektierten, die blendeten, als wären sie eine kosmische Erscheinung – und zwischendrin die Frau auf dem Pferd. „In 15 Jahren hat keiner nach ihr gefragt“, sagt der Buchhändler.

Immer diese Anneke. Niemand kennt sie. Manche wollten sie nicht mal zu Lebzeiten kennen. Die zeitgleich in Münster lebende Schriftstellerin Annette von Droste-Hülshoff nennt Anneke in ihren Briefen „Frau v. T.“ – und meidet deren Gesellschaft, weil sie eine Geschiedene ist. Denn von diesem von Tabouillot – einem Weinhändler aus Mülheim – hatte sich Mathil­de nach einem Jahr Ehe getrennt, weil er sich als gewalttätiger Säufer entpuppte. Frau v. T. sei sehr „genant“, schreibt Droste-Hülshoff und verkennt: Sie ist möglicherweise selbst die „Genante“, da sie zu einer Geschiedenen auf Distanz geht.

Bei Marx sagt niemand „würde“

Der Scheidungsprozess von Mathilde von Tabouillot hatte sich Jahre hingezogen, am Ende wurde sie schuldig geschieden, weil sie der gerichtlichen Aufforderung, zu ihrem Mann zurückzugehen, nicht folgte. Noch mal: Der Mann ist ein Säufer und Schläger. Sie verlässt ihn. Das Gericht fordert, dass sie zurückgehe. Sie tut es nicht. Da wird sie schuldhaft geschieden. „Bösliches Verlassen“, so der Terminus damals. Bei der Hexenverfolgung wurde mit ähnlicher Logik argumentiert – nur dass da alles auf das Todesurteil hinauslief. Die kleine Tochter Fanny indes blieb bei der Mutter – das immerhin war ungewöhnlich. („Ach“, meint später die Frauenbeauftragte von Sprockhövel, als sie Annekes Geburtshaus dort zeigt, „das lag wohl daran, dass Fanny oft krank war und Fannys Vater kein Interesse an ihr hatte.“)

Egal was Mathilde Franziska Anneke geleistet hat, kaum jemand weiß etwas von ihr, auch nicht im nach ihr benannten Weg am Stadtrand von Münster. Hinter den Häusern ein Sickergebiet, die Weiden dort abgeholzt, „sie seien morsch gewesen“, sagt eine Frau, die im Garten arbeitet. Mit Anneke hat sie sich nicht beschäftigt, „ich wohne doch erst ein Jahr hier“. Eine andere, die im schwarzen Chrysler vorfährt und dann die Mülltonnen wegstellt, meint, sie wisse nichts. Wieder eine andere sagt, sie habe gehört, Anneke habe es im 16. Jahrhundert mit den Frauenrechten gehabt. – Eine Metallsäge zerschneidet die Ruhe. Wenn sie aufhört: Vogelgezwitscher, Rotkehlchen, Dompfaff, in den blätterlosen Bäumen gerade gut zu erkennen. Hummeln umschwärmen, was schon blüht. „Entschuldigen Sie die Störung.“ „Sie stören nicht.“

Unter dem Straßenschild vom Mathilde-Anneke-Weg steht: 1817–1884, Schriftstellerin, Journalistin, Frauenrechtlerin.

Einen Tag später im philosophischen Frauensalon „PhiloSofa“, er findet dreimal im Jahr im IG-Metall-Bildungszentrum Sprockhövel, (dieser Stadt, die mit Anneke zu tun hat), statt. „Die Macht des Wortes“ ist Thema des Abends. Dinge zu benennen, habe mit Herrschaft und Macht zu tun, sagt eine Vortragende, „im Anfang war das Wort“. Zwanzig Frauen, alle lange dabei, den Salon gibt es seit 1999, sitzen im Kreis, reden über schöne und böse Worte und wie eines das andere gibt: Ich heiße dich willkommen – Ich heiße dich, etwas zu tun. Jemanden achten – und ächten. Er verlässt sich auf sie. – Sie verlässt ihn. Sprache hätten die Menschen von den Göttern, sagt eine.

Eine andere wechselt das Thema, sagt: „Mathilde Fran­zis­ka Anneke wird am 3. April 200 Jahre alt.“ „Nein“, korrigiert die neben ihr, „sie würde 200 Jahre alt“. Die erste widerspricht: „Bei Marx, der nächstes Jahr 200 wird, wird niemand würde sagen.“ Marx ist ein gutes Stichwort, Anneke kannte ihn. Sie hat so radikal gedacht, geschrieben, gehandelt wie er, auch wenn sie so gründlich vergessen wurde, dass, was noch an sie erinnerte, lange nur Zerrbilder waren. „Flintenweib“ wurde sie genannt, nachdem der Aufstand in Baden und der Pfalz 1849, an dem sie teilnahm, gescheitert war. Eine Dritte sagt: „Anneke wäre 200 Jahre geworden“, das klingt grammatikalisch korrekt – ach, was soll’s. Der Salon bekam im Jahr 2010 den ersten Anneke-Preis verliehen. Nur, wer war sie?

Mathilde Franziska Annekes Leben ist voll. Geboren 1817 als ältestes von elf Kindern in eine wohlhabende Familie. Manche Kinder wurden katholisch, andere evangelisch getauft – das sei ungewöhnlich, schreiben die Biografen. Mathilde erhält wie ihre Brüder Unterricht, darf mit den Kindern von Bediensteten spielen, wird eine ausgezeichnete Reiterin dazu. Sie ist im heiratsfähigen Alter, als sich ihr Vater verspekuliert – die Familie ihren Lebensstandard nicht mehr halten kann. Sie verliebt sich in von Tabouillot, die Quellen geben das her, dass es Liebe war, heiratet ihn, er übernimmt die Schulden ihres Vaters. Sie bekommt ein Kind und verlässt den Mann wieder.

Sie bekommt einen Sohn, lässt sich davon nicht stoppen

Wer einen Bezug zu Anneke sucht, müsse sich ihr Leben anschauen, sagt Karin Hockamp, die Archivleiterin von Sprockhövel: Sich von einem gewalttätigen Mann zu trennen, sei das eine. Als Alleinerziehende aber unbedingt Geld verdienen zu müssen, das können Frauen nachvollziehen, die es erlebten. Hockamp kann es nachfühlen, sie war auch allein mit Kind. Eigentlich Lehrerin, aber als sie Anfang der neunziger Jahre an die Schule hätte gehen können, wurden Lehrer nicht gebraucht.

Hockamp, auf den ersten Blick wirkt sie scheu, wartet im knallroten Mantel bei der Kirche von Niedersprockhövel, geht dann zum Archiv die Hauptstraße hoch. Was ist das überhaupt für eine Stadt, dieses Sprockhövel, dieser aus vielen Dörfern zusammengewürfelte Ort? Sie hätte auch lange dafür gebraucht, das zu verstehen, sagt sie. Historiker, wird gesagt, sollen kein Vaterland, keine Religion, keine Freunde haben – aber ohne Freunde könnte sie hier nicht leben. Anneke sei ihr übrigens in den Schoß gefallen; sie hat ein Buch über sie geschrieben, ein dünnes, damit viele Sprockhöveler es lesen.

In Sprockhövel weiß man erst seit den 1980er Jahren wieder, dass diese bedeutende Frau im Ort gelebt hat. Eine amerikanische Wissenschaftlerin hatte die Stadt angeschrieben und gefragt, ob es Spuren von Anneke gibt. Gibt es. Das Geburtshaus an der B51, das Haus im eingemeindeten Blankenstein, wo sie aufwuchs. Und das gab es auch: Mit diesem Flintenweib wolle er nichts zu tun haben, soll der damalige Bürgermeister gesagt haben. Flintenweib – da war also etwas durchgesickert durch die Zeit.

Zurück ins Jahr 1847: Mathilde ist verliebt in Fritz Anneke, folgt ihm nach Münster, heiratet, sie ziehen 1848 nach Köln, nehmen an Demonstrationen teil, die, beflügelt von der Revolution in Frankreich, auch in Deutschland das allgemeine Wahlrecht und Demokratie fordern. Sie gründen die Neue Kölnische Zeitung, die in einfacher Sprache geschrieben ist, weil sie sich an die Arbeiter wendet – Mathil­de Franziska Anneke findet, dass alle Menschen, unabhängig von Stand und Geschlecht, Zugang zu Bildung und gleiche Rechte haben sollen. Da wird Fritz Anneke verhaftet und landet für Monate im Gefängnis – er sei Rädelsführer, das reichte, ihn einzusperren. Mathilde Franziska Anneke macht die Zeitung allein, schreibt hochschwanger einen Großteil der Artikel, bekommt einen Sohn, lässt sich davon nicht stoppen.

Karl Marx lebt zeitgleich in Köln und gibt die Neue Rheinische Zeitung heraus. Als diese verboten wird, fordert er seine Korrespondenten auf, ihre Artikel an die Neue Kölnische Zeitung von Anneke zu schicken. Aber auch ihre Zeitung fällt unter die Zensur. Sie nennt sie um in Frauen-Zeitung – hoffend, dass eine Frauenzeitung für die Obrigkeit nicht so interessant ist. Im ersten Leitartikel der Frauen-Zeitung fordert sie, dass die Kirche nicht länger die Hoheit über die Schulen haben darf. Aber bereits beim dritten Erscheinen wird auch die Frauen-Zeitung verboten.

Schon das müsste reichen, um diese Frau bekannt zu machen. Nur, da kommt noch viel mehr.

„Frauen haben Anrecht auf kulturelle Repräsentation“

In Köln, unweit der Florastraße, da wo die letzte, bis 1904 von Pferden gezogene Straßenbahn endete und die Stadt Patina bekommen hat, das Alte jetzt neu und das Neue alt wirkt, wo Menschen an einem verschleierten Frühfrühlingstag, die Farben nicht zu grell, wartend rumstehen, in der Tonlage besänftigt, manche auch draußen sitzen für einen schnellen Kaffee, tapfer und etwas gekrümmt, um die Körperwärme zu halten (warum gaffst du so, fragt jemand, weil du schön bist, die Antwort), da wohnt Irene Franken.

Franken, Historikerin, die in den achtziger Jahren den Kölner Frauengeschichtsverein gründete, sorgte dafür, dass von der Fassade des Kölner Ratsturms nicht nur 106 Männer herabschauen auf den Alten Markt. 18 Frauen, die in Köln wirkten, zieren die Fassade nun ebenso: Irmgard Keun, Schriftstellerin. Edith Stein, Philosophin. Die Postmeisterin Katharina Henot, 1627 als Hexe verbrannt. Und Agrippina, „sie hat unsere Stadt“ gegründet. („Unsere“ – das ist eine Liebeserklärung.)

Auch eine Statue von Mathilde Franziska Anneke hängt am Ratsturm. „Frauen haben Anrecht auf kulturelle Repräsentation“, sagt Irene Franken. Nur, wie wird so eine vergessene Frau wie Anneke für uns wieder lebendig? „Indem man das sucht, was sie mit heute verbindet“, meint Franken und zählt auf: Dass Anneke vor 200 Jahren das Recht auf ein freies Leben einforderte. Dass sie sich Entwicklungen erlaubte: von der Gebetbuchschreiberin zur Freidenkerin. „Toll auch: Dass sie das Recht einforderte, als Frau gleich behandelt zu werden wie ein Mann. Davon profitieren wir bis heute.“ Dass sie ihre Handlungsspielräume erweiterte und das einsetzte, was sie konnte: „Als sie Geld brauchte, wurde sie Schriftstellerin; im badischen Feldzug wiederum setzte sie darauf, dass sie eine begnadete Reiterin war.“ Mathilde Franziska Anneke war Ordonnanzoffizierin, Berichterstatterin, brachte Nachrichten von hinten nach vorn an die Front.

Der Blick auf historische Personen sei nie statisch, sagt Franken. Heute könnte auch von Interesse sein, dass Fritz Anneke im Exil in den USA nicht richtig Fuß fassen konnte, seine Frau sehr wohl. Eine Erfahrung, die sich gegenwärtig bei Migra­tions­biografien von Männern und Frauen wiederholt. „Und“, so Irene Franken: „Anneke ist wichtig, weil sie in der Lage war, Frauenrechte und die Abschaffung der Sklaverei zusammenzudenken.“ (Franken erwähnt hier Lebensabschnitte von Anneke, die noch gar nicht erzählt sind: der badische Feldzug, das Exil, ihr Kampf fürs Frauenwahlrecht und gegen Sklaverei.)

Noch ist Mathilde Franziska Anneke nämlich in Köln. Ihr Mann wird Ende 1848 aus dem Kerker entlassen und sofort wieder aktiv in der Demokratiebewegung. Schon Anfang Mai 1849 verlässt er Köln indes, weil ihm erneut Verhaftung droht. Die in Frankfurt tagende Nationalversammlung hatte am 28. März 1849 die Verfassung des Deutschen Reichs verabschiedet, die die Vorherrschaft des Adels ablösen sollte. Der preußische König und die Einzelstaaten Bayern und Hannover erkannten sie nicht an, es kam zu Aufständen, nur in der Pfalz und Baden hielt sich der Widerstand. Fritz Anneke schließt sich, als Führer einer Truppe, den Aufständischen in der Pfalz an. Und im Sommer 1849 stößt Mathilde Franziska Anneke zu ihnen, sechs Wochen zieht sie mit den Freischaren mit und am Ende, als die Festung Rastatt nicht mehr gegen die preußische Übermacht zu halten ist, flüchten sie und ihr Mann über den Rhein nach Frankreich. Von dort aus gehen sie, wie viele „Fortyeighter“, ins Exil in die USA.

„Hey, da ist eine, die hat ganz viel gemacht“, sagt eine Schülerin, der Mathilde-Anneke-Schule in Sprockhövel. Jetzt könnte die Geschichte zu Ende sein – und ist es nicht.

Sie tritt gegen die Sklaverei ein und für das Frauenwahlrecht

In Bad Dürkheim lebt Diana Ecker und arbeitet als Psychotherapeutin. Die Pfalz, sagt sie, sei am allerschönsten in Deutschland. Wie um das zu bestätigen, zeigt sie vom Garten ihres Hauses am Hang über die hügelige Landschaft. Ecker will eigentlich nicht so viel von sich preisgeben – Therapeuten wollen nicht, dass Patienten sich mit ihnen beschäftigen. Jetzt ist sie im Zwiespalt, denn andererseits will sie, dass Anneke bekannt ist. Im Sommer des Jahres 2009 nämlich wanderte Ecker den Weg nach, den Mathilde Franziska Anneke im badisch-pfälzischen Aufstand ging. „Anneke ist mit dem Revolutionszug durch die Gegend geritten, die ich sehr gut kenne.“ Sie kam auch durch Wörth, wo Ecker geboren wurde. „Ich wollte sehen, was sie gesehen hat.“ So versucht Ecker dieser Anneke näherzukommen, sie zu verstehen, „sie war nicht nur Politikerin, sie war Mensch“.

Dann erzählt Ecker, wie Anneke ihren Mann suchte in der Pfalz, ihn in Kaiserslautern vermutet, nur bis Frankenstein kommt, ihren Fritz nicht findet, mit den Freischaren weiterzieht, und er sie, da ihm kundgetan wurde, dass seine Frau ihn sucht, ebenfalls sucht, und sich die beiden auf halber Strecke zwischen Frankenstein und Neustadt finden, „oh, man merkt, sie haben sich geliebt. Liebe gibt Nähe“, sagt Ecker.

Ein Jahr beschäftigt sich Ecker mit Anneke, in einer Zeit, in der sie sich fragte, wie ihr Leben weitergehen soll. „Was Anneke sich zugetraut hat, hat mich inspiriert, auch Neues anzufangen.“ Ecker schreibt ein Buch über diese Reise zu der Frau, in die Zeit. Es wird von einem Kritiker verrissen. Was soll das sein, diese Leutseligkeit. (Leut-Seligkeit.) „Ich wollte sie zur Freundin“, sagt Ecker.

Je näher Ecker bei ihrer Anneke-Reise Rastatt kommt, in deren Festung die Revolutionäre endgültig geschlagen wurden, desto mehr spürt sie, wie groß Hoffnungen sein müssen, um das auf sich zu nehmen, was Mathilde Franziska Anneke auf sich genommen hat. „Und sie hat sich selbst in der Niederlage nicht aufgegeben.“

In den USA gründet Anneke wieder Zeitungen, schreibt Bücher, bekommt noch fünf Kinder und erlebt, wie fünf ihrer sieben Kinder sterben. Sie tritt aktiv gegen die Sklaverei ein und für das Frauenwahlrecht und schreckt nicht vor dem Versuch zurück, einen Kampfgefährten der Anti-Sklaverei-Bewegung aus dem Gefängnis zu befreien.

Geschichte studiert, aber dabei nie von Anneke gehört

Von ihrem Mann entfremdet sie sich. Er gilt als rechthaberisch in allem, was er tut. Er geht zurück nach Europa, um über Garibaldis Kampf in Italien zu berichten, und später, wieder in den USA, im amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Nordstaaten zu kämpfen – erreicht mit seinem Starrsinn aber nur, dass man ihn aus der Armee ausschließt. Emotionalen Rückhalt findet Mathilde Franziska Anneke jetzt bei ihrer Freundin Mary Booth. Ihrem Mann schreibt Anneke, dass sie ihn immer unterstützt habe, dass er aber inzwischen ihrer „Individualität, die nun mal sehr weit sich aus dem gewöhnlichen Kreis herausgerungen hat“, niemals mehr Rechnung tragen könne.

1860 geht auch sie noch einmal nach Europa. Ihre Gesundheit ist angegriffen, die Luft in den Bergen soll heilen. Fünf Jahre lebt sie in der Schweiz, schreibt für Zeitungen – mitunter hat sie kaum Geld. Mary Booth ist mitgekommen – sie nennt es Liebe, was beide verbindet: „Ich gehe nie ohne Maria. Wir verlassen uns keine Stunde. Sie sitzt neben mir, wenn ich arbeite, und wir sind glücklich, daß wir uns gefunden, um uns nie wieder voneinander zu trennen“, heißt es in einem Brief.

Allerdings ist Mary Booth krank, 1864 geht diese zurück in die USA, sie will ihr Kind noch einmal sehen. Im April 1865 stirbt sie. Im gleichen Jahr kehrt Anneke in die USA zurück und gründet mit Cäcilie Kapp, einer neuen Weggefährtin, in Milwaukee, wo viele Deutsche leben, eine Mädchenschule. Anneke leitet sie, unterrichtet auch, der Unterricht progressiv, der Lehrplan fortschrittlich, Religionsstunden gibt es keine. Die Berichte über ihre Schule sind überschwänglich – Anneke war zu Lebzeiten Vorbild. Neben ihrer Arbeit setzt sie sich weiter fürs Frauenwahlrecht ein und wird fast bis zu ihrem Tod 1884 in Amerika eine der wichtigsten Kämpferinnen dafür – in den USA anerkannt und geehrt.

Und in Sprockhövel, dieser Stadt im Ruhrgebiet. Da wird ihr 200. Geburtstag begangen. Mit Konzerten, Führungen, der Verleihung des Anneke-Preises und mit Schattentheater an der Anneke-Schule. (Direkt neben der Schule stehen die Container, in denen Flüchtlinge wohnen.)

In einem dunklen Raum proben fünf Neuntklässlerinnen und ein Junge aus der Zehnten, die meisten mit einer Migrationsbiografie, Albanien, Italien, Syrien. In bewegten Scherenschnitten stellen sie Szenen nach aus Annekes Leben. Wie sie von ihrem Mann geschlagen wird, wie sie sich neu verliebt, wie sie für Freiheit kämpft, wie sie mit nichts, nicht mal einem Koffer, flüchtet. Die Schülerinnen sind aufgeregt, wortkarg, sie suchen gegenseitig ihre Nähe, eine spielt mit den Haaren der, die vor ihr sitzt. Ja, sie finden toll, was Anneke gemacht hat. Liebe, Gewalt, da können sie andocken. Die Lehrerin, die die Schattentheater-AG leitet, assistiert, als die Mädchen verstummen. „Gut fanden sie“, sagt sie, „dass sich Anneke auch in Frauen verliebt hat. Das hat sie beeindruckt.“ Und sie erzählt noch, dass sie Geschichte studierte, aber von Mathilde Franziska Anneke dabei nie erfuhr.

Fotos: taz-Archiv