Mild und bitter

Neulich erfuhr ich: Guenia Smouchkevitch ist gestorben. 92 Jahre alt wurde sie. Sie ist eine Frau, an deren Leben sich fast ein ganzes Jahrhundert spiegelt. Ich begegnete ihr vor ungefähr 15 Jahren und schrieb den folgenden Text, der in der taz vom 8.1.2003 erschien. „Egal, ob ich mich aufrege: Fragen Sie alles“, sagte Guenia Smouchkevitch, als ich sie traf. Sie will so viel erzählen, wie sie kann. „Heute ist es mir egal, wo ich wohne. Ich bin a Mensch und du bist a Mensch. Wir reden miteinander.“

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Die Lieblingsfarbe von Guenia Smouchkevitch ist jene der Hoffnung, des Wachstums, des Gleichklangs. Silbergrün, wie die Blätter von Pappeln, so glänzen Ring, Armreif und Kette, die sie trägt. Dazu der Ton ihrer Kleidung: zusammengestellt aus efeu, moos und oliv. Selbst Seife, Handtücher, der Stiel der Geschirrbürste in ihrer Berliner Wohnung changieren zwischen Flaschengrün und zartem Smaragd. Mit der Farbe bejaht Guenia Smouchkevitch das Leben. „Es ist schön.“

Dagegen der Tod: Von ihm hatte Guenia Smouchkevitch zu viel, als sie jung war. Der Tod ist schwarz vom verkrusteten Blut. Er ist bleich. Leer. Deshalb Grün. Deshalb das Leben. Smouchkevitch hat Menschen ohne Gesichter gesehen, ohne Arme, ohne Beine. Sie hat Soldaten gesehen, die nur noch Fleisch waren, noch nicht einmal mehr Blut. Sie erinnert sich an Männer, die stürzen, die fallen, die verbluten, erfrieren, verhungern. Die Bilder vor ihrem inneren Auge überwältigen sie. Wahllos greift sie eines heraus. „Die Verwundeten haben nicht vor Schmerzen, sondern vor Hunger gebrüllt. Wir haben erfrorene Pferde gekocht. Mit Pickel haben wir Stücke aus ihnen herausgehauen. Noch roh haben die Soldaten das Fleisch verschlungen.“ Smouchkevitch schreit den Schrecken ins Mikrofon. Jeden Tag sind die Soldaten hinausgezogen. „Wenn sie zurückkamen, waren es noch die Hälfte, drei Viertel“. Es ist ihre in der Verneinung aufgegangene Antwort auf die Frage: „Wie viel Tote haben Sie gesehen?“ Die gebeugt gehende Frau macht daraus: „Wie viele Tode habe ich gesehen? – Alle Tode, die es gibt.“ Sie weiß, wovon sie spricht. Sie war selbst Soldatin. Sanitäterin in einem Maschinengewehrbataillon an der Front. In der Roten Armee. Jahrelang. Im „Zweiten Vaterländischen Krieg“.

„Fragen Sie alles“, sagt Guenia Smouchkevitch. „Egal, ob ich mich aufrege, ob ich schreie.“ Wie alle Veteraninnen weiß sie: Sie muss so viel erzählen, wie sie kann. Sie muss so lange erzählen, wie sie kann. Wie lange wird sie noch können? „Ich wünsche von ganzem Herzen, dass niemand jemals die Schrecken des Krieges kennen lernen wird.“ Sie sagt es in einer Sprache, die zu Berlin passt: In Jiddisch, ihrer Muttersprache, gemischt mit Russisch und Deutsch. Litauisch spricht sie auch. Sie sagt „Litaunisch“. Es erinnert an „launisch“. Ihre Heimat hat sie mit Ambivalenz lieben gelernt. An ihr lag es nicht.

Smouchkevitch ist in Kaunas geboren. „Das kleine Paris Litauens“, sagt sie. Am Tag, als der Krieg in ihre Stadt kommt, ist sie auf einem Dampfer. Eine Ferienfahrt. Für Jugendliche. Zuerst denkt sie bei den Schüssen an eine Übung. Schließlich ist sie mit dem Lied groß geworden: „Hitler hat hölzerne Soldaten, hölzerne Panzer, hölzerne Flugzeuge. Stalin hat eiserne Soldaten, eiserne Panzer, eiserne Flugzeuge.“ Der Unbesiegbarkeitsmythos. Die 77-Jährige singt es vor. Mit kraftvoller Stimme. Als jedoch eine Granate das Schiff trifft, wissen alle: „Krieg!“ Der Dampfer fängt Feuer. Sie und die anderen schaffen es zurück ans Ufer und beginnen zu laufen. Wohin? Warum? „Mir seinen gelofen, gelofen, gelofen.“ Erneut türmen sich die Bilder vor Guenias Augen auf. Sie berichtet, wie sie in ihrer Gruppe bis zur russischen Grenze rennen. Tagelang. Dabei werden sie von oben beschossen. Unterwegs trifft sie ihren „Djadja“. Onkel. Er will, dass sie mit ihm und seinen Leuten weiterzieht. An irgendeine Front, die noch keinen Namen hat. Sie lehnt ab. In der Gruppe von Djadja ist ein Junge. Der wird in Smouchkevitchs Leben einmal eine Rolle spielen. Das weiß sie noch nicht.

Um ihren Bericht zu verstehen, muss man Guenia weiterrennen lassen. „Zeit gerinnt in der Erinnerung wie Blut.“ Im Durcheinander ist nur eines sicher: Sie ist 15 Jahre alt und sieht ihre Eltern und Schwestern nie wieder. Da jüdisch, werden sie ins Ghetto von Vilnius verschleppt und später in Stutthof vergast.

Ich treffe Guenia Smouchkevitch in ihrer Wohnung. Bei der Ankunft ist der Tisch reich gedeckt: Auberginensalat, süßer Hering, Tomaten, Paprika, Obst in Sirup, Käse. „Es ist Lunchtime. Essen Sie bitte.“ Es schmeckt gut. Die orangefarbenen Lachskaviarperlen zergehen auf der Zunge. Mild und bitter in einem. Die Rosinen im Salat verbinden das Saure mit dem Süßen. „So was lieben die ‚litaunischen‘ Leute“, sagt sie. Mild und bitter, süß und sauer: Zwei Seiten des Lebens. Nicht nur mit der Wahl ihrer Lieblingsfarbe hat sie sich dem Leben zugewandt, auch mit ihrem späteren Beruf: Lebensmitteltechnologin. Essen, das bedeutet: am Leben bleiben. Sie hat nach dem Krieg die staatlichen Kantinen in Vilnius aufgebaut und geleitet.

Smouchkevitch ist eine von etwa einer Million Frauen, die als Soldatinnen in der Roten Armee waren. Als Scharfschützinnen, Minensucherinnen, Pilotinnen, Fallschirmspringerinnen. Als Gefreite, Leutnants, Offiziere. Bei der Artillerie, an der Front, hinter der Front, im Nachschub. Auch im Kampf „Mann gegen Mann“. Als „Soldaten zweiter Klasse“ wurden die Rotarmistinnen wahrgenommen. Für die Nazis waren sie „Flintenweiber“ und „Nachthexen“. Die stalinistische Propaganda wiederum überhöhte sie zum Idealtyp Heldin, Kämpferin – weiblich und furchtlos.

Teenager waren sie, als sie in den Krieg zogen. Über Jahre nur Grausamkeit und Brutalität. „Wir hatten es besonders schwer, wenn wir als junge Mädchen die Verwundeten auf unseren Schultern trugen und sie im Kugelhagel verbanden. Häufig musste man den Soldaten ersetzen und griff selbst zum Gewehr“, erzählt Smouchkevitch. Angriff? Verteidigung? Alltag im Krieg? Die alte Frau nickt. Wird still. Sagt nichts mehr.

Außer Orden, die sie verliehen bekamen, war Unterstützung bei der Verarbeitung der Kriegstraumata in der Sowjetunion nach 1945 nicht vorgesehen. Stattdessen fühlten sich viele Soldatinnen zurück in der Heimat gar gedemütigt, galten sie doch oft plötzlich als „Fronthuren.“ Darauf angesprochen, gerät Smouchkevitch außer sich. Im Gegensatz zu ihren Kombattantinnen aus anderen sowjetischen Republiken wurde sie in Litauen respektiert, für das, was sie getan hat. Geleistet hat. Erzählt sie.

An der Front war der Tod, aber da war auch das Leben. Alles lag nah beieinander. Guenia Smouchkevitch verliebt sich, lernt ihren Mann kennen. Jenen Jungen, der am ersten Kriegstag in der Gruppe ihres Djadja ist. Er ist im Hauptquartier der Division. Sie in der Kampfzone. Manchmal wird sie nachts auf Skiern ins Hauptquartier geschickt. „Zehn, fünfzehn Kilometer durch Frontgebiet, überall deutsche Späher.“ Damals hatte sie keine Angst, sagt sie. „Ich kenn nit gloiben, dos wos ich hob alles iberlebt.“ Ist es Legende, fragt sie sich heute.

Alles vermischt sich in ihrer Erzählung. „Ich hatte keine Abtreibung im Krieg“, erklärt sie. Es klingt wie ein Sieg über den Tod. Denn selbstverständlich sind Frauen schwanger geworden an der Front. „A soy is der Leben.“ Guenia Smouchkevitch spricht über Hingabe und meint alles: den Mann, in den sie sich verliebt hat, den Verwundeten, den sie ins Leben zurückholt, den verwundeten Feind, mit dem sie Jiddisch spricht, weil die Deutschen das verstehen. Und sie meint den Kampf, die Ungewissheit, die Sehnsucht nach ihrer Familie, nach der Antithese des Krieges. Es gibt einen Brief von ihr vom 5. Juni 1943 an ihre Eltern. Sie schreibt ihn kurz vor einer entscheidenden Schlacht. Sie schickt ihn ohne bestimmte Adresse nach Kaunas, in der Hoffnung, dass jemand weiß, wo ihre Eltern sind. Metaphorisch nimmt sie darin jedoch den Tod ihrer Familie vorweg: „Hierher, meine Lieben, bin ich freiwillig gekommen, um die Rechnung zu begleichen für euren Kummer und Unglück, an dem ich genauso leide wie ihr. Es ist jetzt laut hier. Wir bereiten uns zum Angriff vor. Leben oder Tod. […] Bald sind es zwei Jahre, daß ich mich von meinen Nächsten und Liebsten verabschiedet habe. Es fällt mir heute schwer, alles zu beschreiben, was mir in diesen beiden letzten unglücklichen Jahren widerfahren ist. […] Meine Lieben, ihr solltet mich wahrscheinlich verachten, mich vergessen. Ich habe euren Haß verdient. Ich habe euch im Feuer gelassen […]“ Smouchkevitch liest den Brief vor, als hätte sie ihn gestern geschrieben. Es gibt so wenig von damals, was bis heute authentisch ist. Diese Worte sind’s.

Nach dem Krieg studiert Smouchkevitch, bringt drei Kinder zur Welt, baut Vilnius mit auf. Ihre letzte Prüfung an der Fakultät macht sie, als sie schon Wehen hat. Sie kann Schmerzen aushalten, wenn sie fürs Leben sind. Sie will eine zivile Gesellschaft. Sie will, dass niemand je wieder hungern muss. Sie will das Leben. Ihre Kinder studieren Medizin. Die Söhne wandern nach Amerika aus. Die Tochter zieht nach Deutschland. Als die Sowjetunion zerfällt, Litauen sich unabhängig erklärt, gibt es den Nebelgeruch von Bürgerkrieg. Guenia Smouchkevitch erträgt es nicht. Nie mehr Krieg. Sie zieht zu ihrer Tochter nach Berlin. Sie lebt in dem Land, das ihre Familie getötet hat, dem Land, gegen das sie gekämpft hat. „Heute ist es mir egal, wo ich wohne. Ich bin a Mensch und du bist a Mensch. Wir reden miteinander. Bei mir gibt es keinen Unterschied in der Farbe des Körpers, der Sprache, der Nationalität. Bei mir sind alle Menschen Brüder. Keine Mutter will, dass ihr Kind umkommt. Ich will Frieden auf der ganzen Welt.“ Zum Abschied schenkt sie mir ein Glas Pfirsiche, die sie in Sirup eingelegt hat. Sie sind sehr süß.