Das Geheimnis von Haus Nummer 15

Das hier ist die Geschichte einer jüdischen Familie in Berlin, die gerettet wurde. Ein alter Mann erzählte sie mir immer wieder. Ich habe sie aufgeschrieben, nicht wissend, ob es wirklich stimmt. Bis sich die Tochter des Sohnes der jüdischen Familie meldete.

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Schief steht Evelyn Grossman auf dem Trottoir und saugt den Anblick des Hauses auf. Nummer 15. Eisenbahnstraße. Berlin. Eingehüllt in ihren schwarzen Mantel ist sie – ihr Körper eingefroren. Vom Ziegeldach bis zum zersprungenen Kellerfenster wandert ihr Blick. Dann schließt sie für Sekunden die Augen. Wenn etwas sie berührt, macht sie das oft. „Was guckt die so?“, fragt ein Junge, der schlängelnd auf dem Rad an ihr vorbeifährt, ohne dass sie es merkt. Auf dem Gepäckträger sitzt sein Kumpan. „Keine Ahnung“, sagt der. Auch Grossmans Mann und ihre Mutter, die dabeistehen, antworten nicht.

Nur einmal will Evelyn Grossman dieses Haus sehen – am 15. Dezember 2011, einem feuchtkalten Tag, der die Stadt mit schleimiger Nässe überzieht. Ein Berliner Altbau ist es. Vier Stockwerke. In jedem sechs große Fenster. Unten links die Haustür, darüber die Nummer. Fünfzehn. So ausbalanciert, so mittig. Rechts das große, offene Tor mit dem Durchgang zum Hinterhof. Das Haus macht einen erbärmlichen Eindruck, die Scheiben verstaubt, blind, mit zusammengeknoteten Vorhängen im ersten Stock, egal, je erbärmlicher, desto näher kommt die Frau mit den geschlossenen Augen der Geschichte, deren Spuren sie sucht.

Grossman, blond, mit feinen, kurzen Locken und spitzem Kinn, so spitz wie das ihres 1972 verstorbenen Vaters, wirkt fragil, zart, jung – obwohl sie sechzig war vor nicht langer Zeit. Sie ist die Letzte, die in der Geschichte, die in einem Berliner Hinterhaus in Kreuzberg nahe der Spree spielte, Wirklichkeit erkennt, Wirklichkeit spürt. Sie spürt sie, kennt sie, obwohl ihr Vater nie darüber gesprochen hat. Aber Kinder erfahren Dinge, auch wenn Eltern schweigen. Sie weiß alles. Sie träumt davon: ein Zimmer in einem Haus. Menschen sind darin. Obwohl sie nicht eingesperrt sind, können sie es nicht verlassen. Selbst im Traum schafft das Kind, Evelyn, es nicht, sie zu befreien. Das Kind träumt die Panik des Vaters. Der bleibt stumm.

Der alte Mann im Hof erzählt Unglaubliches

Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts steht ein anderer, Paul Pissarius heißt er, im Hof der Eisenbahnstraße 15. Im Hinterhaus wohnt er. Dort, wo es nicht hochherrschaftlich ist. Gern tauscht er ein paar Sätze mit Nachbarn. Mal mit der Studentin im vierten Stock, selten mit dem lesbischen Pärchen oder der Rentnerin im dritten. Manchmal mit der libanesischen Frau im zweiten. Auch der Fotograf und die Schauspielerin, die über ihm wohnen, bleiben stehen, wenn Pissarius sie anspricht. Wie es geht. Dass es kalt ist. Dass die Fenster ziehen und die Öfen wieder qualmen. Das Heizen zwingt die Leute ins Gespräch. Weil manche am selben Schornstein hängen. Heizt die Studentin im vierten, bevor Pissarius den Ofen bei sich, in der Erdgeschosswohnung, in Gang setzt, qualmt es bei ihm. In einem Berliner Schornstein kann Rauch fallen. So ein Schornstein muss von unten erwärmt werden. So einem Schornstein muss man sich mit List nähern.

Pissarius ist alt. 1895 geboren. Ein dünner, redseliger Mann mit wachen Augen und großen Ohren. Er ist allein, seine Leni tot. 1977 im Sommer gestorben. Wer ihn im Flur trifft – beim Briefkasten oder beim Kohlenholen -, dem erzählt er das. Die Trauer natürlich. Auch wenn er von seinem Außenklo kommt und jemanden sieht, will er reden. Gleich rechts hinter der Eingangstür zum Hinterhaus ist seine Toilette. Weil er im Erdgeschoss wohnt, muss er sie mit niemandem teilen. Über ihm haben je zwei Etagen einen Abtritt auf halber Treppe. Das Haus ist wie nach dem Krieg. Von hinten, dort, wo die Fassade an die Fabrik grenzt – DeTeWe, Deutsche Telefon- und Kabelwerke -, sind ein paar Einschusslöcher im Putz.

Pissarius erzählt noch mehr. Dass er Geld in Krügerranddollars anlegt. In Gold. Zweimal hat er erlebt, wie alles zusammenbrach. Manchmal gibt er seinem Enkel auch Geld. Dann wieder: seine Leni. Die war besonders. Eine Berliner Pflanze. Geraucht hat sie. Eigen war sie. Und das erzählt er noch: dass er von 1943 bis 1945 fast zweieinhalb Jahre lang drei Juden in seiner Wohnung versteckt hat. Er erzählt es allen, denen er über den Weg läuft und die zuhören. Drei Leute? „Ja.“ Wer? „Ein Mann, eine Frau und der Sohn.“ Zweieinhalb Jahre? „Am 30. Januar 1943 sind sie gekommen.“ Bis zum Ende des Krieges? „Ja.“ So lange versteckt? „Ja.“ Aber wie soll das gehen? Zweieinhalb Jahre? Mit dem Essen, den Bomben und allem? Wie kann man das aushalten so lang?

Evelyn Grossman geht über die Straße und durch den Durchgang in den Hinterhof. Ihre fast 89 Jahre alte Mutter Elisabeth Joseph geborene Jacobi neben ihr. Sie wäre gern Tänzerin geworden. Aber die Nazis. Den Holocaust hat sie als Hausmädchen mit falscher Identität in einer Villa im Berliner Bezirk Dahlem überlebt. In der Eisenbahnstraße 15 war sie nie.

Die zwei gehen. Gebückte Gestalten, die am Boden Halt suchen, Spurenleserinnen sie. Sie fühlen die abgetretenen Steinplatten unter den Füßen, berühren den stumpf gewordenen Türgriff, streichen über das abgesplitterte Holz der alten Außenklotür, die Wand entlang, zehn Schritte und dann der Blick die schmutzige, blau gestrichene Treppe hoch. Niemand kommt.

Wem Pissarius seine Geschichte einmal erzählt hat, dem erzählt er sie wieder. „Drei Juden, Vater, Mutter, Sohn.“ Zweieinhalb Jahre. Eine Heldentat. „Man hat es wissen können, das mit den Juden“, sagt er. Wie? „Man hat es wissen können.“ Aber drei Juden, zweieinhalb Jahre in der kleinen Wohnung? „Dreieinhalb Zimmer“, sagt er. Das halbe Zimmer für die Juden. Winter, Sommer, Winter, Sommer, Winter? Er nickt. Er nickt eifrig. Es bewegt ihn. Ein paar Jahre lang habe er eine Anerkennung deswegen bekommen. 150 Mark. Im Monat. Als seine Frau starb, hätten sie sie ihm weggenommen. „Die sagen, meine Rente sei zu hoch.“ Wer? Er kämpft mit den Tränen. Zweieinhalb Jahre, drei Juden. Und jetzt? „Als wäre es nicht wahr.“

Für Pissarius ist die Geschichte wahr. Besser, man stellt die Fragen so, dass kein Zweifel aufkommt, dass man ihm glaubt. Dann zeigt er das dunkle Wohnzimmer mit den alten verstaubten Teppichen, dem Tisch, der Couch und die Tür zum halben Zimmer, zehn Quadratmeter vielleicht, in dem die dreiköpfige Familie versteckt war. Haben die Leute überlebt? Wie heißen sie? Wo sind sie jetzt? „Ja, überlebt, ja. Aber einer ist gestorben.“ Wie gestorben? „Wir konnten doch keinen Arzt holen.“ Und dann?

Nachts bei Verdunkelung hätten sie ihn in eine Steppdecke gewickelt, aufs Fahrrad gelegt und er und der Sohn des Verstorbenen seien die Straße hochgegangen bis zur Brommybrücke und hätten ihn in die Spree geworfen. Vielleicht zweihundert Meter sind es vom Haus zum Fluss. Die Brücke gibt es nicht mehr, sie wurde im Krieg zerstört. Wann ist er gestorben? „Februar“, sagt er, „Fünfundvierzig“, sagt er. Da waren die schlimmen Bombenangriffe auf Berlin. „Die Leni hat immer gesagt, dass keine Bombe aufs Haus fällt.“ Obwohl die Fabrik angrenzt – ein Rüstungsbetrieb war es in der Zeit. Und tatsächlich, die Bomben, die der Fabrik galten, verfehlten ihr Ziel, rasierten die Häuser auf der gegenüber liegenden Straßenseite ab. Den ganzen Block.

Was Pissarius Anfang der achtziger Jahre erzählt, bleibt fragmentarisch: Juden ohne Identität. Jahre ohne Kontur. Eine Heldengeschichte ohne Fortsetzung. Klar ist, der Mann – Schreiner eigentlich, der aber als Straßenhändler arbeitete und Lebensmittel auf einem Karren vertrieb – wich nie von seiner Geschichte ab. Drei Juden hätten er und seine Frau durch den Krieg gebracht. Wie sie hießen, sagt er nicht. Warum nicht? Er zuckt mit den Schultern. Er wisse den Namen nicht. Und wo sie jetzt seien? „Amerika.“ Die Juden sollen angesehene Geschäftsleute gewesen sein. Und dann sind die zweieinhalb Jahre in der dunklen Wohnung von ihm? Mit Außenklo. Mit nur einem Wasseranschluss in der Küche. Mit 28 Mietparteien drum herum. Niemand darf was merken.

Sie schieben den Toten auf dem Rad zur Spree

„Und einer ist gestorben“, sagt Pissarius wieder. Nachts, bei Verdunkelung haben sie den Toten, in eine Decke gewickelt, auf dem Fahrrad geschoben. An den notdürftig zur Seite geräumten Trümmern vorbei. Niemand darf etwas hören. Und dann ins Wasser. Das Geräusch, als er reinfällt, aufklatscht, lässt sie zusammenfahren. In der Wohnung sitzen die beiden Frauen und warten. Jede Sekunde wird zur Stunde. So geht Ewigkeit.

Von siebentausend Juden und Jüdinnen, die sich in Berlin versteckten, haben 1.700 überlebt. Ein Überlebender brauchte etwa zehn Leute, die ihn unterstützten, sagen die Wissenschaftlerinnen von der Forschungsstelle „Stille Helden“ und ebenso viele Stationen. Erst seit 1997 werden die Geschichten von Leuten systematisch gesammelt, die Verfolgten im Untergrund halfen. Pissarius und seine Frau haben drei Leute, die keinen Namen haben, gerettet. Versucht zu retten.

„Wir waren gegen die Nazis“, sagt Pissarius. „Meine Frau hat gesagt: Wir machen das.“

Besser, man glaubt ihm. Glaub’s. Schon weil die alte Nachbarin vom dritten Stock nicht gut auf Pissarius zu sprechen ist: „Ah“, sagt sie und wirft den Kopf so, als wollte sie auf den Boden spucken, „die Frau Pissarius ging mit der Nase nach oben.“ Warum? „Sie sei was Besseres, bloß weil das mit den Juden war.“ Was war mit den Juden? „Das hat man doch nicht gewusst, was mit denen war.“ Ein andermal, da war ihre Freundin, die alte Hauswartsfrau, dabei: Weil die Pissarius im Erdgeschoss wohnten, seien die bei Alarm die Ersten im Keller gewesen. „Die Juden haben die besten Plätze besetzt“, sagt die Hauswartsfrau. Mal wollen die Nachbarinnen nicht gewusst haben, dass Juden verfolgt wurden, und im nächsten Satz wollen sie mit ihnen im Luftschutzkeller gesessen haben. Oh Gott, hat jeder in dieser Hütte seine eigene Wahrheit?

Und dann geht die Geschichte nicht weiter. Aber das Leben. Das Pärchen trennt sich. Die alte Nachbarin zieht zu ihrem Sohn. Die Schauspielerin bekommt ein Kind. Die Studentin geht nach London. Pissarius stirbt. Im Januar 1986 stirbt er. Seine Wohnung wird geteilt. Das halbe Zimmer ist jetzt eine Küche und ein Bad.

Einmal aber, zwölf Jahre nach Pissarius‘ Tod, flackert die Geschichte doch wieder auf. In einem Zeitungsartikel. Die ehemalige Studentin aus dem vierten Stock schreibt ihn. Eine Hommage an die Eisenbahnstraße sollte es werden. Es wird eine an den Alten. „Meine Eisenbahnstraße gehört Paul Pissarius“, steht da. Dann erzählt sie von dem Mann, den sie am Briefkasten trifft und wie er von den drei Juden spricht, Winter, Sommer, Winter, Sommer, Winter. Einer stirbt. Sie werfen ihn in die Spree. Dann dauert es noch einmal elf Jahre, bis Evelyn Grossman den Artikel im Internet findet.

Evelyn Grossman klingelt an der Tür zur Erdgeschosswohnung im Hinterhaus der Eisenbahnstraße 15. Sprauer wohnt jetzt da. Sprauer macht nicht auf. Die Dielen vor der Eingangstür sind abgetreten. Näher an früher kommt sie nicht ran. Sie geht durch den zweiten Durchgang in den kleinen Hof, der das Hinterhaus von der Fabrik trennt. Sie schaut auf das Fenster, das einst zum halben Zimmer gehörte. Ein schiefes Stück Stoff, verwaschen in Pink und vergilbtem Weiß, verdeckt die staubige Scheibe. Grossman saugt alles auf.

Die Tochter findet einen Text, in dem alles steht

Sie hat als Finanzanalystin gearbeitet. Sie lebt in Trenton, New Jersey. Ihr Mann ist Arzt – auf alten Bildern sieht er wie ein Hippie aus. Zwei Kinder haben sie. Zwei Enkel auch. „Unsere Familie gibt es wieder“, sagt sie. Fast wäre sie ausgelöscht worden. Darüber geredet wurde nicht.

„Und dann finde ich einen Artikel, in dem alles steht“, sagt Grossman. Das sei doch ihre Geschichte gewesen, ihre allein: Zweieinhalb Jahre, drei Juden, einer stirbt. Sie werfen ihn in die Spree. „Jemand hat das Schweigen meines Vaters gebrochen“, sagt sie. „Wie kommt die dazu? Zuerst war ich sauer auf die.“ Sie sagt es mit einer sanften, entschuldigender Stimme auf Englisch, obwohl sie Deutsch kann.

Immer wieder hatte sie nach dieser Geschichte gesucht. Beiläufig manchmal. Oskar Materne war der Name, an den sie sich klammerte. Sie wusste, der hatte ihren Vater in Kontakt gebracht mit Pissarius. Ihm haben sie nach dem Krieg geschrieben, ihm haben sie von Amerika aus Pakete geschickt. Pissarius nie. Sie surft, seit sie Internet nutzt, auf allen einschlägigen Websites, in denen das Schicksal von Holocaustopfern und Überlebenden archiviert wird. Weil sie über Materne nichts findet, gibt sie, eher mechanisch, den Namen Pissarius ein und stößt auf den Zeitungsartikel. „Oh my God.“

Das Internet gibt mehr her: auch die E-Mail-Adresse der ehemaligen Studentin aus dem vierten Stock, die den Artikel schrieb. Am 21. August 2009 um 3.14 Uhr schickt Grossman eine Mail an sie: „I am writing to you about your article ,Die Eisenbahnstraße‘.“ Und dann erzählt sie, dass die drei Juden ihre Großeltern Leopold und Bertha Joseph und ihr Vater Ernst Jospeh waren, der seinen Vater wiederum in die Spree werfen musste und dass er sich dafür sein Leben lang geschämt habe. „What my father needed to do was always a point of embarrassment and sadness. It was a story my family knew, but never discussed.“ Eine Geschichte, über die nie geredet wurde. Sie schreibt noch, dass sie hofft, mit Leuten, die Pissarius kannten, in Kontakt zu kommen.

Thank you.

Best regards,

Evelyn Joseph Grossman.

Also war es doch wahr.

Ihre Großeltern und ihr Vater besaßen eine Import- und Großhandlung für Fischkonserven, die lief unter dem Namen Lippmann, schreibt sie in späteren Mails. Die Geschichte ist wie ein Puzzle. Da ist ein Teil, da ist ein anderer Teil. Einiges passt.

Das Berliner Landesarchiv ist in einer alten Waffen- und Munitionsfabrik im Norden der Stadt untergebracht. Im Lesesaal mit den weißen Tischen, den hellen Lampen, liegt die Rentenakte von Paul und Helene Pissarius. Eine abgegriffene ockerfarbene Kladde mit ein paar Dutzend Schriftstücken. Signatur B Rep. 078 Nr. 956. Paul und Helene Pissarius kannten die Josephs nur als Familie Lippmann, steht in einem Dokument. „Ungefähr im Januar 1943 lernte ich durch einen Bekannten die Eheleute Lippmann kennen. Die Eheleute waren Juden und suchten damals eine Unterkunft“, steht in einem Protokoll, das eine Aussage von Frau Pissarius dokumentiert. In einem archivierten Brief steht: „Wir haben die Familie gottseidank bis zum Kriegsende gut durchgebracht. Seit 1947 ist die Frau mit dem Sohn in Amerika.“ Und: „Nun geht es der Frau und dem Sohn in Amerika gut, aber an ihre Lebensretter denken sie nicht, denn daß uns diese Zeit viel Nerven gekostet hat, ist wohl verständlich. Mein Mann 63. Jhr. geht das ganze Jahr schon stempeln, dadurch geht es uns jetzt auch bedrängt.“ Mit solchen Worten begründen die beiden 1958 ihren Antrag auf eine Ehrenunterstützung. Sieben Jahre braucht das Entschädigungsamt, um sie zu bewilligen. Nach Helene Pissarius‘ Tod 1977 wird sie auch ihrem Mann gestrichen.

In anderen Dokumenten in der Akte steht, dass die Josephs ihr Vermögen vor der Verfolgung durch die Nazis auf 200.000 Reichsmark schätzten. Nach dem Krieg waren es noch etwa 30.000. Bestätigt wird auch, dass Paul und Helene Pissarius kein Geld dafür verlangten, dass sie die dreiköpfige Familie versteckten. Erst nach dem Krieg gaben ihnen die Josephs 5.000 Reichsmark zum Dank.

Dass die „haftähnliche“ Situation die Gesundheit aller Beteiligten angriff und dass die Nerven blank lagen, steht in einem weiteren Dokument. „Frau Lippmann war sehr rücksichtlos, so dass es oft Ärger und Aufregungen gegeben hat. Darunter haben mein Mann und ich selbstverständlich sehr mit unseren Nerven gelitten, weil wir ja immer in Angst lebten, dass das ja bloß kein Mensch merkte“, gibt Helene Pissarius am 18. Dezember 1956 zu Protokoll.

Entschädigung fürs Leben im Versteck: 5 Mark pro Tag

Und Bertha Joseph schreibt in einer eidesstattlichen Versicherung vom 24. Mai 1954, dass sie 27 Monate nicht an die frische Luft kam, dass sie durch die Eingeschlossenheit krank wurde, Schwindel- und Schwächeanfälle hatte, abmagerte, schlecht sah.

Die Papiere in der Akte sind vergilbt. Schon ausgefranst und brüchig am Rand. Nach dem Krieg bekommen die beiden Überlebenden Bertha und Ernst Joseph für jeden der 818 Tage, die sie vom 30. Januar 1943 bis zum 28. April 1945 untergetaucht waren, 5 Reichsmark Entschädigung. Abgelehnt aber wird der Antrag für die restlichen vier Tage bis zur Befreiung Berlins, die sie in der Eisenbahnstraße 15 verbrachten, „weil der Stadtteil von Berlin, in dem sich die Antragsstellerin zuletzt aufhielt, am 28. April 1945 von den sowjetischen Truppen besetzt wurde und somit die Notwendigkeit zu illegalem Leben nicht mehr gegeben war“, heißt die Begründung.

Evelyn Grossman, ihre Mutter und ihr Mann, stehen schweigend im Hinterhof der Eisenbahnstraße 15. Die Wände sind mit dem blattlosen Geäst von Wildem Wein überzogen. „Warum ist der Kontakt zwischen meinem Vater und Pissarius abgebrochen?“ fragt Grossman.

Einen Tag zuvor waren die drei in Andernach am Rhein. Werner Pissarius wohnt da, Pauls Neffe. 1915 geboren. Wie Grossmans Vater. Sein Körper trägt ihn kaum mehr, aber seine Augen so blau und wach, seine Ohren so groß. Als Kind schlief er oft mit Paul, seinem Lieblingsonkel, in einem Bett, erzählt er. Als sein Onkel alt war, hätten sie sich aus den Augen verloren. „Sagen Sie, war der Paul dick?“, fragt er. Nein, war er nicht. „Wir Pissarius werden nicht dick.“

Danach das Thema seiner Generation: Krieg. „Ich war 98 Monate lang Soldat“, erzählt der 96-Jährige. Panzergrenadier in Polen, Frankreich, Holland, Belgien, Russland. Stalingrad. Verwundet. Gefangenschaft. Bis heute entzündet sich der Durchschuss an seinem Bein immer wieder neu. Er krempelt das Hosenbein hoch und zeigt die dunkle Kruste auf einer runden Wunde an seinem Knie. Einmal sei er während des Krieges bei seinem Onkel in Berlin gewesen. „Ich habe nicht gemerkt, dass da jemand versteckt war“, sagt er.

Die Nachkommen treffen sich in Andernach im Café

Seit das Schweigegebot, das Evelyn Grossmans Vater über die Zeit in der Eisenbahnstraße gelegt hatte, gebrochen ist, versuchte Grossman, Verwandte von Paul und Helene Pissarius zu finden. Sie will, dass die Namen der Retter ihrer Großeltern und ihres Vaters im Jad Vaschem, dem Holocaustmuseum in Jerusalem, in Stein gemeißelt und dass sie unter die Gerechten der Völker aufgenommen werden. Dies ist die höchste Auszeichnung Israels an Nichtjuden. Verwandte müssen die Ehrung stellvertretend entgegennehmen.

„Den Enkel von Paul haben sie nicht gefunden“, sagt Werner Pissarius, der zu gebrechlich ist, um zu reisen, „deshalb bin ich jetzt gefragt.“ Die Ehrung mit dem israelischen Gesandten findet im Rathauscafé von Andernach statt. Mit Korbmöbeln, roten Papierdecken, goldenen Tannenbäumen. Es gibt Kaffee, Cremetorte und ein Gruppenfoto: Evelyn Grossman, ihre Mutter Elisabeth Joseph, Werner Pissarius, der israelische Gesandte Emmanuel Nahshon. Die Urkunde, die Medaille mit Paul und Helene Pissarius‘ Namen darauf.

Werner Pissarius sitzt am kuchengedeckten Tisch im Rathauscafé und erzählt, dass Paul und Leni, Onkel und Frau, ihn nach dem Krieg oft besuchten. Leni soll rauchend im Garten gesessen und zugeschaut haben, wie der Enkel über den Teich sprang. Bei den Besuchen sei immer auch die Zeit zur Sprache gekommen, als die beiden die drei Juden versteckten. Siebenundzwanzig Monate. Als die Russen endlich da waren, sei Leni auf die Straße gegangen und habe russische Soldaten in ihre Wohnung geholt, um ihnen die Juden zu zeigen. Dann habe sie alle noch bekocht.

Evelyn Grossman, ihre Mutter und ihr Mann stehen im Hinterhof der Eisenbahnstraße 15 in Berlin-Kreuzberg. Und dann gehen sie, den Blick zum Boden, die Straße entlang. Noch einmal den Weg bis zur Brücke, die es nicht mehr gibt. Vorbei am Haus Nr. 16 mit der großen Fensterfront, dem breiten Tor. Vorbei an Nummer 17, fünf Fenster im Parterre, an 18, sechs Kellerluken, an 19, schmale Fenster mit Brüstungen im Erdgeschoss, an 20, 21, das Tor zuerst, dann die Fenster eines Ladens, 22, die lange Front, 23, die lange Front. Nummer 24, das Eckgrundstück zur Köpenicker Straße fehlt. Jetzt verbirgt sich hinter dem Lattenzaun ein verwunschener Spielplatz.

„Meine Großeltern kannten die Adresse nicht, wo sie versteckt waren“, erzählt Grossman. Einzig ihr Vater, Ernst Joseph, ging raus, um auf dem Schwarzmarkt Essen zu besorgen und um Elisabeth Jacobi, seine spätere Frau, die in Dahlem in der Illegalität lebte, zu sehen. Jede Woche trafen sie sich irgendwo in der Stadt. „Einmal kam er nicht“, sagt Grossmans Mutter auf dem Weg zur Brücke. „Ich dachte: das Ende.“ Und dann wird die immer wieder gleiche Frage gestellt: Ob sich die Josephs und die Pissarius am Ende gehasst haben und deshalb der Kontakt abbrach? „Nein, kein Hass“, sagt Grossman. „They were kind people“, sie waren gütige Menschen. Und ihre Mutter sagt: „Pissarius hatte immer ein Wahl. Die Josephs hatten keine.“ Auch sie wollte nicht bei den Leuten in Dahlem bleiben nach dem Krieg, obwohl die sagten: Wir schicken dich zur Schule, wie eine Tochter. „Die wussten, meine Eltern sind tot, mein Bruder ist tot, aber ich wollte nicht bleiben. Nicht länger diese Abhängigkeit. Nicht länger dankbar sein“, sagt Grossmans Mutter.

Dann überqueren die drei Menschen auf ihrem späten Beerdigungszug die Köpenicker Straße und gehen die Sackgasse hoch, wo früher die Brücke war. An einer Ecke klebt eine Reklame für Berliner Pilsener: „Berlin du bist so wunderbar“, steht darüber. „Wie eine Kuh mit Pferdehaar“, reimt Grossmans Mutter sofort. Das hätten sie früher als Kinder immer gesungen.

Ein paar Schritte weiter geht es über das holprige Kopfsteinpflaster bis zum Gitter, an dem die Straße aufhört. Die beiden Frauen bleiben stehen, halten sich am Geländer fest. Links sehen sie den Fernsehturm, rechts die Oberbaumbrücke, davor den schwarzen Fluss. Das Fundament des alten Brückenpfeilers ragt aus dem Wasser wie eine kleine Insel. Wie ein verwitterter Grabstein. Ein paar dürre Birken wachsen zwischen den Fugen der Steine. Ein Sprayer hat „just“ darauf gesprayt. Immer wieder „just.“ „Genau“ heißt das. Und „jetzt“. Und „gerecht“.

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Ich bin die ehemalige Studentin aus dem vierten Stock. Für mich war, was Pissarius erzählte, eine Geschichte ohne Zugang zur Vergangenheit. Für Evelyn Grossman war es eine Geschichte ohne Zugang zur Zukunft. Waltraud Schwab