Gabriel in Gold

Wer einen Ikonenmalkurs macht, muss sich in Demut üben, was ganz schön schwierig ist, wie ich feststellen durfte

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Lernen ist das Motto der documenta 14 in Kassel. „Von Athen lernen“. Nur, wofür steht Athen denn? „Für Chaos und Ordnung“, sagt eine 75-jährige Künstlerin. Und der pensionierte Forstwissenschaftler neben ihr meint: „Athen steht für Weisheit“. Er dachte an Eulen – das Maskottchen der documenta. Der Soziologe wiederum, der mit den beiden Kaffee trinkt in der Evangelischen Akademie in Hofgeismar, findet: „Athen ist Krise und Gegenwart“. Die Künstlerin schwenkt bei Gegenwart sofort auf Vergangenheit: „Auch für griechische Philosophie, Staatsordnung, Polis, Ursprung der Demokratie steht Athen.“ Eine Grafikerin aus Bayern und eine Seelsorgerin aus der Schweiz mischen sich zudem ein. Athen bedeute, „dass man in der Krise seine Menschlichkeit nicht verliert“, sagt die eine, „Resonanz“, die andere, „man soll das Fremde in sich schwingen lassen.“

Genau das tun die fünf Kaffeetrinkenden. Zusammen mit elf weiteren machen sie einen Ikonenmalkurs in Hofgeismar – der Ort liegt bei Kassel. Animiert von der documenta, veranstaltet die Evangelische Akademie ihn. Er findet in einem Schlösschen statt, mitten im Park. Seit 1952 gehört das fürstliche Anwesen komplett zur Kirche. „Edel sieht es hier aus“, sagt eine, „ob sich das Ambiente auf unsere Malerei auswirkt?“ Da wusste sie noch gar nicht, dass es um Malerei nicht geht.

Im rot gestrichenen Gartensaal stehen die Staffeleien für die 16 Leute, die sich im Ikonenmalen versuchen, um mehr von der orthodoxen Bilderverehrung zu verstehen. Denn auch „Orthodoxie kann man von Athen lernen“. Kerstin Vogt sagt das. Sie ist Studien­leiterin in der Akademie, zuständig für Kultur und Ökumene. Von ihr stammt die Idee. Den katholischen, evangelischen, glaubensfernen und – wie ein Teilnehmer sagt – „sonst was Gläubigen“ soll ermöglicht werden, sich einmal auf die bedingungslose Hingabe und Demut einzulassen, wie sie sich in der byzantinischen Ikonenmalkunst zeigt. Das ganze Projekt ist genau genommen selbst Konzeptkunst. Es wird die Leute, die teilnehmen, in den neun Tagen an ihre Grenzen bringen. „Grenzerfahrung ist eine Form der Spiritualität“, sagt Kerstin Vogt.

Bedingungslose Hingabe und Demut bedeutet vieles, wie dann im Kurs zu erfahren ist. Vor allem gilt: nicht widersprechen. Die Regeln der Ikonenmalkunst sollen nicht in Frage gestellt werden, und werden es im Verlauf der Woche doch ständig. „Warum kann das Blau nicht bleiben?“, fragt eine Teilnehmerin, die das Gewand des Erzengels blau malt. Warum? Weil die Vorlage einen grünen Mantel vorsieht. Beim Ikonenmalen geht es darum, einen Heiligen zu kopieren, nicht das Bild von einem Menschen nach eigenen Vorlieben entstehen zu lassen. Wobei … Aber dazu später.

Wer die orthodoxe Bilderverehrung verstehen will, muss akzeptieren, dass es zwischen Bildern und Glauben keinen Bruch gibt, wie es die Ikonenmalerin Konstantina Stefanaki, die den Workshop leitet, deutlich macht. Für sie sind Ikonen „Fenster zu Gott“. Beim Malen führe der Heilige, den sie malt, ihr die Hand. Diese Hingabe, nicht mit der aufgeklärten Vernunft zu parieren – ist eine Herausforderung: Glauben, nicht zweifeln. „Das ist schwer“, sagt eine Teilnehmerin, „Mission impossible“, meint eine andere.

Gläubige in orthodoxen Kirchen gehen an den nach strenger Hierarchie aufgehängten Heiligenabbildungen der Ikonostase vorbei und küssen die Bilder. Zu allen Cherubinen, Seraphinen, Thronen und Mächten haben sie eine sinnliche Nähe. „Ich küsse meine Tochter, wenn ich sie sehe. Ich küsse die Heiligen, wenn ich in der Kirche bin.“ Es sei nicht dasselbe, meint Stefanaki, die Kursleiterin, aber doch auch. „Zwischen einem orthodox Gläubigen und dem Abbild des Göttlichen steht nichts“, erklärt Kerstin Vogt – die Studien­leiterin, die auch Pfarrerin ist. „Wir können uns das nur schwer vorstellen.“

Stefanaki erklärt, dass man Ikonen eigentlich nicht malt, sondern „schreibt“. Das sei die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes Ikonographia. Die Formulierung zeigt: Gelernt wird eher eine Schrift, selbst wenn das Ergebnis ein Bild ist. Kennerinnen wie Stefanaki lesen die Ikonen dann auch. Sie wissen sofort, wer abgebildet ist und welche Bedeutung, welche Geschichte die Abgebildeten haben. Wofür das Band im Haar steht, der Stab, die Körperhaltung, die Farbe der Kleidung – alles ist Chiffre. „Kann ich das Band im Haar weglassen?“, fragt eine im Kurs. Nein, geht nicht, es symbolisiert die Verbindung zum Göttlichen. „Kann ich anstatt Gabriel ,Der Verkünder‘ draufschreiben?“ Wieso das denn? Von morgens neun bis abends neun sitzen die Leute vor den Staffeleien und folgen der strengen Abfolge von Arbeitsschritten: Abpausen, vergolden, Farbschichten übertragen, von Dunkel nach Hell, vom Schatten zum Licht, von der Unwissenheit zur Erkenntnis. „In der byzantischen Ikonenmalkunst kommt die dunkle Farbe zuerst“, erklärt Stefanaki. Konkret heißt das: Alles, was abgepaust wurde, ist wieder weg, wenn die dunkle Farbschicht aufgetragen wird.

Konstantina Stefanaki, gebürtige Frankfurterin, die seit 1995 in der Ikonenwerkstatt der Orthodoxen Akademie von Kreta arbeitet, erzählt, dass sie mit Ikonen aufgewachsen ist. Als sie nach dem Abitur nicht wusste, was sie studieren will, sei sie vor dem Christusbild in ihrem Frankfurter Elternhaus gestanden und habe sich bei Jesus beklagt, dass kein Studienfach sie mehr interessiere. Da sah sie plötzlich die Ikone – oder sah die Ikone sie? – und sie dachte, wie schön, das will ich machen. „Ich werde Ikonenmalerin“, sagt sie ihrer Mutter. „Ja, wie, was?“, fragt diese. „Ist das ein Beruf?“

Im Kurs soll der Erzengel Gabriel gemalt werden. Stefanaki hat ihn ausgesucht. Warum? „Alle kennen Engel“, sagt sie. „Normalerweise würde mit Jesus Christus angefangen, aber nicht alle haben zu dem einen Bezug.“ Der Gabriel gefällt ihr von seinem Ausdruck her. Er passt auch zu diesem Artikel, denn Gabriel ist so etwas wie ein Journalist. Der „Pressesprecher Gottes“, sagt jemand.

Erst wird Temperafarbe mit Ei angerührt, dann wird der Kopf des abgepausten Erzengels mit Blattgold umrahmt. „Gold ist göttliche Herrlichkeit“, sagt Stefanaki. Hasenleim, Ochsengalle, Anlegemilch dagegen sind ­Materialien, die gebraucht ­werden, um Blattgold und Farbe zu fixieren. Schelllack auch. Der Heiligenschein muss sein – mit Zirkel aufgetragen. „Geht es nicht ohne?“ Nein, dann wäre es nicht der Erzengel. Und auch das Ohr kann nicht durch Haare überdeckt sein. „Es gibt keine Ikonen ohne Ohren, weil der Glaube übers Hören kam“, sagt eine. Und die Kursleiterin: „Auch die Augen sind wichtig, weil die Abgebildeten das Unsichtbare gesehen haben.“

Die Augen indes kommen erst am vorletzten Tag dran. Davor kämpfen die Teilnehmenden mit dem Flügel – easy –, dem roten Gewand – schwerer, dem blau geknoteten – oh je – und dem grünen Überwurf – gut, dass in dem später die Signatur steht, das lenkt von den Mängeln ab. „Dia chiros“, durch die Hand, wird vor den Namen in der Signatur geschrieben. Der Signierende war nur das Medium.

Dann also das Gesicht – die größte Herausforderung. Der Glaubenssucher unter den Teilnehmenden sagt: „Bisher habe ich nicht geflucht.“ Kurzes Auflachen und „tztztz“. Gescherzt wird selten, stattdessen schweigende Konzentration – unterbrochen durch Anleitungen, durch einen Blick über die Schultern der anderen und durchs Essen. „Wir sitzen alle in einem Boot“, sagt eine. Der Soziologe meint, das Malen sei eine spirituelle Erfahrung für ihn. Andere nennen es nur Erfahrung.

Zur Abwechslung dann die Fahrt nach Kassel zur documenta. Im Fridericianum wird die Sammlung des EMST gezeigt, des Museums für moderne Kunst in Athen, das – außerhalb der documenta – kein Geld hat zu öffnen. Dort hängt ein riesiges Bild von einer Demonstration in den 80er Jahren, auf der die Legalisierung der Abtreibung gefordert wird. Es ist im Stil einer byzantinischen Ikone gemalt. Die Demonstrierenden wirken kastig und hölzern. Stefanaki gefällt es nicht – obwohl doch genau wie bei einer Ikone mit Chiffren gearbeitet wird, die nur versteht, wer die Kultur und die Sprache kennt. „Das ist keine Ikone“, sagt Stefanaki. Sie findet ein anderes Bild stärker. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein wütendes Meer. Wer genau hinschaut, entdeckt im aufgewühlten Wasser menschliche Figuren, Tiere – versteckt, mehrschichtig, eingeschrieben wie bei einer Ikone. Ein Bild der Weltentstehung und des Untergangs.

„Wir können uns das Göttliche nicht ohne Rekurs auf das Menschliche vorstellen“, sagt einer der Teilnehmer, ein 86-jähriger Arzt, beim Besuch der documenta. Ein anderer meint, selbst im bilderarmen Protestantismus gebe es doch Bilder, die mit dem Göttlichen in Zusammenhang gebracht werden: „Das flackernde Licht einer Neon­röhre im Gottesdienst, ein schief hängender Vorhang, ein Deckchen mit gehäkelter Borte unter einer Kerze.“ Dass Bilder nicht stören, das könne man als Protestant in diesem Kurs lernen – so werde die Ökumene sinnlich erfahrbar gemacht.

Die streng formalisierte Auseinandersetzung mit den Bildern in der Orthodoxie hat etwas mit dem 2. Gebot in der Bibel zu tun: Du sollst dir kein Bildnis machen. In der christlichen Ostkirche hat das zu Bilderverboten geführt. Erst über einen Kunstgriff, der Glaubenszweifel nicht erlaubt, wurden in der orthodoxen Kirche ab dem 9. Jahrhundert Bilder von biblischen Gestalten wieder möglich. Es wurde nämlich argumentiert, dass Christus und die Heiligen gelebt haben und ihre Darstellung von daher kein Abbild ist, sondern die Wiedergabe eines wahren Zustands. Deshalb die strengen Regeln beim Ikonenmalen. Es sind keine Bilder, die entstehen, sondern Kopien des Urzustands. Das Kopieren ist für die orthodoxen Ikonenmaler und -malerinnen Meditation, Zwiesprache mit Gott.

Und im Kurs: Da ist das Ikonenmalen erst einmal Disziplinierung. Dranbleiben, nichts überspringen, nicht hudeln, die Regeln beachten. 16 Ikonen entstehen, beim kleinen Abschlussgottesdienst für die Teilnehmenden werden sie ausgestellt. Obwohl doch kopiert, sieht keine wie die andere aus. Am Ende nämlich hat sich das Eigene, wenngleich subtil, doch Bahn gebrochen. Da erinnert ein Erzengel ein wenig an Madame Pompadour und ein anderer an einen widerwillig dreinblickenden Jüngling. Einer sieht aus, als wäre er von Kirchner, dem expressionistischen Maler, inspiriert – „immerhin, da steckt auch Kirch’drin“, sagt jemand. Ein Engel hat Erschrecken im Blick, ein anderer Leere. Viele wirken androgyn – alle etwas bleich. Das mit der Androgynität der meisten Gabriels wird gutgeheißen. Denn Engel haben kein Geschlecht.

Fotos: Waltraud Schwab