Jeder Name ein Schritt. Jeder Schritt ein Gebet.
An einem Septembersonntag gehen 200 Menschen von Weimar zum Konzentrationslager Buchenwald. 75 Jahre nach der Befreiung des KZs. Sie gehen auf den Spuren der dort inhaftierten und ermordeten Menschen. Auf welcher Seite sie damals gestanden hätten, können sie nicht wissen.
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Der Wind, sagt Naftali Fürst, wenn er jetzt daran denke, dann spüre er diesen Wind. Und Vögel müssen da gewesen sein. In Buchenwald, auf dem 480 Meter hohen Ettersberg bei Weimar in Thüringen. Nicht wie in Auschwitz, „in Auschwitz war kein Vogel“. Fürst war in beiden Konzentrationslagern als Kind, als Jugendlicher. Jahrelang. Zuletzt wurde er auf den Todesmarsch nach Buchenwald geschickt. Am 25. Januar 1945 kam er dort an. Körperlich am Ende, „ich war schon auf der anderen Welt“.
Seine Worte hat Naftali Fürst Journalisten ins Mikrofon gesagt. Am einem Septembersonntag, dem 13., wurden sie bei einer Klangcollage abgespielt. Die Menschen, die im Gedenken an die Opfer den acht Kilometer langen Weg vom Weimarer Hauptbahnhof zum Konzentrationslager gehen, hören über Kopfhörer zu. Und dann nehmen sie die Kopfhörer ab, lauschen, und spüren dem Wind nach. Und, ja, es singen Vögel.
Über 200 Leute haben sich am Weimarer Bahnhof eingefunden, um 75 Jahre nach dem Ende von Krieg und Faschismus diesen Weg noch einmal zu gehen, den viele tausend Gefangene in den Jahren zwischen 1937 und 1945 entlanggetrieben wurden.
Aber auch Weimarerinnen und Weimarer gingen ihn damals. Am 16. April 1945, fünf Tage nachdem die US-amerikanische Armee das Lager erreicht hatte, sollten, so hatte es das amerikanische Oberkommando verfügt, 1.000 Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt, die untrennbar mit Goethe, Schiller, Bach, Liszt, Strauss und vielen anderen Größen der deutschen Hochkultur verbunden ist, sich Buchenwald anschauen, das Elend, die ausgemergelten Gefangenen, die Leichenberge. Parteiangehörige der NSDAP sollten es, wenn möglich, sein, so die Order.
Einige der Leute sollen sich freiwillig gemeldet haben. Vom Bahnhofsvorplatz mussten sie durch den Tunnel unter den Gleisen Richtung Norden; sie mussten die Ettersberger Straße und die Blutstraße, die damals noch keinen Namen hatte und nicht befestigt war, entlang und sich im KZ Buchenwald anschauen, zu welcher unermesslichen, unfassbaren Unmenschlichkeit die Kulturnation fähig war.
Erst sei die Stimmung unter den Weimarerinnen und Weimarern damals, vor 75 Jahren, gelöst gewesen, als sei das ein Frühlingsausflug im ersehnten Frieden. So beschreiben es Zeitzeugen. Als die Menschen aber in Buchenwald ankamen, seien sie verstummt. Nur dieser eine Satz sei immer und immer wieder zu hören gewesen: „Wir haben nichts gewusst, nichts gewusst, nichts gewusst…“ Der Fotografin Margret Bourke-White, die als Kriegsberichterstatterin der US-Streitkräfte das Lager Buchenwald nach der Befreiung dokumentierte, kamen diese Sätze wie die neue Nationalhymne vor. Und in der Nachkriegszeit war es doch auch eine.
Die 200 Leute aber, die jetzt den Weg zum Gedenken an die Opfer gehen, gehen ihn im Wissen, dass sie nicht sagen können, auf welcher Seite sie vor 75 Jahren gestanden hätten.
Unter denen, die sich vor dem Weimarer Bahnhof an dem Septembertag, dem letzten Tag des Kunstfests Weimar, im Rahmen dessen der „Gang nach Buchenwald“ veranstaltet wird, treffen, sind viele junge Leute. Bunt gekleidet sind sie, alle haben Mund und Nase bedeckt. Sie stehen in kleinen Gruppen. Eine Schülerin aus Apolda ist da – zusammen mit ihrer Mutter. Beide sind sich wie aus dem Gesicht geschnitten, nur die Haare der Mutter durchzogen von Grau. Niemand sonst habe sich aus Apolda angemeldet, erzählt die Mutter, deshalb wurde kein Bus eingesetzt. Sie empfindet es als Schande. Die Tochter sei die treibende Kraft gewesen, sie, die gerade die Jugendweihe hinter sich habe. Sie will, „dass die Erinnerung erhalten bleibt“. Die Erinnerung – ein zerbrechlich Gut. Man könne in das Lager wie in einen Spiegel schauen, sagt jemand.
Auch Ältere sind da, manche mit Stöcken; eine erzählt, sie habe kürzlich eine neue Hüfte bekommen, ganz einfach werde es nicht für sie, aber sie sei entschlossen, es sei wichtig. Die Älteste, gebeugt, ist Jahrgang 1932, der gleiche Jahrgang wie Naftali Fürst. Wird sie angesprochen, braucht sie lange für eine Antwort. Sie habe schon Anfang der 1950er Jahre Buchenwald besucht. „Berge von Haaren, ein Riesenberg Schuhe“, sagt sie.
Jeder Schritt ein Gebet
Zum Auftakt des Gedenkspaziergangs spricht der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow aus, was viele, die dabei sind, ahnen: Dass das Gestern und das Heute nah beieinanderliegen. Dass das Wunderbare der Gegenwart sehr dünnes Eis sei. Er deutet auf die Geschichtsklitterer, die versuchten „in einer 180-Grad-Wende die Geschichte zu entsorgen“. Er deutet auf die Bilder von Moria und ist entrüstet ob der „Kaltschnäuzigkeit, mit der politisch Verantwortliche sagen, wir hätten nichts damit zu tun“.
In der kurzen Rede tippt Ramelow das an, was die Menschen auf dem Vorplatz bewegt, und dann macht sich der Zug schweigend auf. Über Kopfhörer hören die Leute die Fragmente aus den Erinnerungen von Naftali Fürst, das lässt sie noch mehr verstummen. Wer den Kopfhörer abnimmt, wird eingelullt vom sanften Geschlurfe. Es ist ein Schweigemarsch, eine Prozession, eine Wallfahrt. Jeder Schritt ein Gebet.
Und als der Zug auf einen Feldweg abbiegt und über ein Plateau führt, das früher Truppenübungsplatz war, drängt sich die Schönheit der Landschaft auf, die hügelige Weite, die noch blühenden Blumen, Wegwarte violett, Butterblumen gelb, wie auch der Odermennig, das verdichtete Grün im angrenzenden Wald und die vom Wind gefrästen schiefen Bäume auf der Hochebene, wo ein weithin sichtbarer toter Baum als verkohlte Skulptur mahnt.
Ein Mann sagt, er möchte nicht reden; eine Frau, Geschichtslehrerin, sagt, Geschichte nur über Siege und Niederlagen zu vermitteln sei einseitig. Wer aber auf die Gräuel verweist, stoße oft auf Abwehr. Eine andere Frau sagt, jedes gesprochene Wort störe. Dieser Gang sei für sie wie „ein Ruf“.
Jeder Name ein Schritt
Auf dem letzten Stück des Gedenkweges geht es entlang der nun überwucherten Gleise, die einst zur Rampe führten. Auf Steinen am Wegrand sind die Namen der Kinder eingraviert, die in Vernichtungstransporten im Herbst 1944 nach Auschwitz gebracht wurden. Heinz Schulz. Miroslaus Daniel. Gottlieb Richter. Albert Schwarz. Rudolf Weiss. Wocho Modis. Otto Nagler. Ferenc David. Und mehr. Und mehr. Und mehr. Jeder Name ein Schritt. Im KZ gab es einen Kinderblock. Naftali Fürst war einer der 2.000 dort eingepferchten Jungen, die überlebten. Anders als in anderen KZs waren viele Kapos und Blockälteste in Buchenwald politische Häftlinge. Der Blockälteste der Kinderbaracke, Antonin Kalina, war Kommunist und tat alles, um die Kinder zu schützen.
Eine schwarz gekleidete junge Frau, die aus der Nähe von Saalfeld kommt, jetzt aber in Dresden studiert, wie sie erzählt, wirkt, als werde sie von der Erde aufgesogen, als sie den Weg am Bahndamm entlanggeht. Für sie ist es kein Spaziergang, auch nicht nur Gedenken, es ist Widerstand. Gegen ihre Familie. Denn sie habe Verwandte, die sehr extrem rechts seien, aus dem NSU-Umfeld kämen. Weinend sei sie, aber auch ihre Schwester, schon vom Familientisch aufgestanden und weggelaufen. Hämisch lachend habe sich einer der Verwandten vor dem Krematorium und vor dem Eingangstor von Buchenwald, das mit dem Schriftzug „Jedem das Seine“ versehen ist, fotografieren lassen. Zu Familienfeiern gehe sie nicht mehr. „Man sagt, Blut sei dicker als Wasser, aber das stimmt nicht.“
Kurz nach dieser Begegnung verengt sich der Weg. Dort werden die Kopfhörer wieder eingesammelt. Es ist wie ein Signal, wie ein Aufatmen, das die Menschen in die Gegenwart zurückführt. Satzfragmente aus dem Alltag bilden den neuen Klangteppich. Erst nur einzelne Worte, dann ein gesprochenes Summen von überall her. Die Leute sagen: „Ja, auch – undenkbar – was passgenau funktioniert – Mehrwertgedanken – Mehrweggedanken – da bin ich gegangen – Leerstand, weil alle weg wollen – du musst mitreden – den Traum buchen – dass das wenig Sinn macht – in der Küche lag der Brief – da hab ich an der Wand gestanden.“
Dass wieder geredet wird, ist Gegenwart. Und von fern sind bereits die tiefen, dunklen Klänge zu hören. An der einstigen Rampe von Buchenwald stehen Bläser der Staatskapelle Weimar und spielen ein Stück, das im Lager komponiert wurde. „Die Toten mahnen“, geschrieben 1941 von Ondrej Volrab. An anderer Stelle auf dem Gelände des KZ spielen Streicher eine Komposition von Józef Kropiński: „Leid“. Nur im KZ habe er komponiert, niemals davor und danach. Der Wind zerrt wie verrückt an der schwarzen Bluse der Geigerin.
Angekommen, verläuft sich der Zug der Gedenkenden auf dem Gelände. 280.000 Gefangene mit den Außenlagern waren in Buchenwald. Fast 56.000 starben. Manche der Leute, die mitgegangen sind, schauen sich die auf Leinwand übertragenen Gespräche mit Zeitzeugen an. Manche hören Lesungen zu. Manche lassen sich durchs Lager führen. Der kommissarische Direktor der Gedenkstätte sagt: „Man sucht neue Formen des Erinnerns.“
Und wir können kommen. Können gehen.