Der 11. September

Dies ist ein Auszug aus meinem Roman „Brombeerkind“. Es ist der Moment, in dem die Mutter des grünäugigen Mädchens in einem Laden steht und sieht, wie die Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers fliegen.

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Die Mutter der Grünäugigen war schon verbraucht, als sie schwanger wurde mit dem Mädchen. Dass ihre Form eine Frau und ein Kind umhüllt, ist nicht zu erkennen. In der Verdopplung ihres Körpers verschwimmen seine Konturen. Da sind Kopf, Bauch und Beine, ein wenig wie in den Zeichnungen von Kindern, wenn ihr Blick noch aufs große Ganze fällt, auf das, was Bedeutung hat, und nicht auf die Schichten, die sich die Menschen, je größer und erwachsener sie werden, überstülpen, um ihr Inneres zu verbergen. Die rohe Form ihres Körpers machte auch die, die mit ihr sprachen – Nachbarinnen, jemand »aus der Sippe«, so sagte sie – selbst roh.

Wer ihr auf der Straße begegnete oder sie im Supermarkt traf, wo sie die Regale auffüllte, der fühlte sich unwohl, als wäre er bei etwas ertappt worden, beim Wünschen nämlich, dabei, sich die Welt schön zu denken, auch wenn sie nicht schön ist, auch wenn, wie kurz vor der Geburt des Mädchens, Flugzeuge in Hochhäuser fliegen, Menschen aus dem hundertsten Stock springen und Kriege begonnen werden, die nie aufhören.

An dieser Stelle muss etwas angemerkt werden: Die Mutter der Grünäugigen hat das mit den Flugzeugen, die am 11. September 2001 in Hochhäuser fliegen, zwar mitbekommen, überrascht indes wirkte sie nicht. Sie verstand nicht, was sie das anging, obwohl sie begriff, dass es real war, wenngleich es auch erfunden hätte sein können.

Sie stand im Laden von Conny1 und Conny2 in der Kameruner Straße, die von der To-go-Straße abgeht, was nur erwähnt wird, um den Laden zu verorten. Und er war ja auch da, als es ihn noch gab.

Die beiden Connys waren Frauen, die auch Männer waren. Sie reparierten in dem verrauchten schäbigen, mit Kabeln, Steckern, Platinen, Bildschirmen, Tastaturen, Rekordern, Radios und allem möglichen Equipment vollgestopften Raum – das  Zeug schien pilzartig aus den Wänden herauszuwachsen – eben dieses Zeug. Überall standen dazu Computer herum.

Nicht dass die Mutter der Grünäugigen einen Computer gehabt hätte, aber Conny1 und Conny2 halfen bei allem, was anfiel, bei Problemen mit Kassettenrekordern, mit Telefonen, mit Videokameras, Super 8, Fernsehern, einfach allem, das zu ihnen getragen werden konnte. Die ältere Conny majestätisch, mit überlangen Fingernägeln, die sich spiralig nach vorne biegen, mit denen sie dennoch jede Schraube, und sei sie noch so klein, löst, wie, das bleibt selbst beim Zuschauen rätselhaft. Die jüngere Conny blond gefärbt, mit Lippenstift auf den Schneidezähnen. Ihre Hände manikürt, ihre rot lackierten Fingernägel nicht gar so lang. Sie liebt und lobt die ältere Conny sehr.

Bei der Mutter der Grünäugigen war der Videorekorder kaputt. Sie konnte sich ihre Lieblingsfilme nicht mehr anschauen, dabei mochte sie Liebesfilme. Das Happyend half, ihr eigenes Unglück leichter anzunehmen. Auch die Musik von ABBA mochte sie. Damit konnte sie für kurze Momente glücklich sein. »Mamma Mia«, »Super Trouper«, »Waterloo«. Ach ja, »I have a dream«. Jemand sagte ihr mal, was das auf Deutsch heißt. So ein Lied genügte ihr, um den Rest zu ertragen. Wenn sie gute Laune hatte, was immer seltener vorkam, hat sie die Lieder vor sich hingesummt, mitsingen konnte sie nur in einer erfundenen Sprache, sie verstand die Texte nicht.

Schwanger war sie schon, aber da niemand es merkte und sie selbst es nicht wahrhaben wollte, ließ sie, als sie den Videorekorder abholen kam, sich von einer der Connys (wer 1 und wer 2 war, wusste sie nie) eine Zigarette geben. Das Feuerzeug hatte die Form eines Schraubenziehers, aus dem vorne die Flamme stieß. Conny hielt es und starrte dabei auf den Bildschirm, der vor ihr stand. Die Schwangere musste sich über die Theke beugen, um die Zigarette anzuzünden. »Was’n los?«, fragte sie.

»Noch eins«, sagt Conny.

»Was meinste denn?«

Conny dreht langsam den Bildschirm zu ihr hin, gerade so, als verschöbe sie einen Elefanten, und da zeigen sie auch schon in der Wiederholung, wie Flugzeuge in den Tower des World Trade Center in New York fliegen.

»Ist das echt?«, fragt die Mutter der Grünäugigen. Conny zuckt mit den Schultern. »Jetzt sag mal, ist das wirklich echt?«

Da wird Conny philosophisch und sagt, dass Echtheit kein Kriterium sei, und die blond gefärbte jüngere Conny pflichtet ihr bei.

»Aber wenn das echt ist«, fragt die Mutter der Grünäugigen nun, »was dann?« Keine Antwort. »Wer macht so was?« Dass sie diese Frage stellt, zeigt, dass sie, wären da mehr Chancen gewesen, über sich hätte hinauswachsen können. Nur ist damals, als das wichtig war, niemand da gewesen, um ihr den Weg aus sich heraus zu zeigen.

»Bin Laden vermutlich«, sagen die beiden Connys wie aus einem Mund, aber das sagt der Mutter der Grünäugigen nichts, und ehrlich gesagt, fühlt sie sich nun erst recht übergangen.

»Was meinste jetzt damit? Bin auch im Laden. Sind doch alle hier.« Es stehen noch zwei weitere Leute hinter der Schwangeren, ein Mann und eine Frau und die lachen auf, aber nur kurz, dann stoppen sie abrupt, denn nun sehen sie, wie Menschen aus den Hochhäusern springen, und die Mutter der Grünäugigen fragt noch einmal, ob Conny wirklich sicher sei, dass das echt ist.

Vielleicht taucht beim Lesen die Frage auf, woher ich, die ich diese Geschichte erzähle, so genau weiß, was in dem verrauchten Laden der zwei Connys in diesem verlotterten Stadtteil damals passierte? Ganz einfach, weil ich, da ich es aufschreibe, die Wortmacht habe – aber glauben Sie mir, ich könnte es gar nicht erfinden. Die Wirklichkeit ist größer als das Erdachte. An jenem 11. September 2001 stand ich mit den anderen im Laden von Conny 1 und 2, den es heute nicht mehr gibt, ein als Café getarnter Spielsalon ist nun drin. (Der Vater der Grünäugigen saßda später manchmal.) Dort sah auch ich die Bilder der Flugzeuge, die in die Hochhäuser flogen, zum ersten Mal. Breitbeinig ist die Schwangere neben mir gestanden. Ich hab den beißenden Geruch der Zigaretten gerochen, die alle rauchten, die Frauen, der Mann, die beiden Connys, und der sich mit bitterem Schweiß vermischte.

Niemand im Laden ist mit seinen Anliegen weitergekommen, die Bilder der in die Hochhäuser fliegenden Flugzeuge haben sich davorgeschoben. »Ach so, ja, der Videorekorder.« Immer mehr Menschen springen aus den Fenstern des World Trade Centers. Ein Menschenregen. Man sieht sie springen, aber nicht aufkommen. Niemand will sich das denken. »Ach so, ja, das Telefon.«

So sind also die Hochhäuser eingestürzt, und die Schwangere ist bald danach Mutter geworden. Lange schaute sie das Mäd- chen an, dieses blasse Wesen, die durchscheinende Haut. Haare hatte es schon, dunkle, und die Augen waren braun. (Bald jedoch wirkten sie blau, und eine Weile später bekamen sie jenen Grünton, der selten ist und geheimnisvoll.)

Nach ein paar Tagen hat sie dem Kind einen Namen gegeben. Sie hatte es Mariyem Fanny Olga New York genannt, der Name sollte alle Namen der Sippe umschließen und alles Sein, das in ihrem Blut und dem des Kindsvaters steckte; außerdem, das ist klar, soll es ein Star werden.

 

Waltraud Schwab, Brombeerkind, Ulrike Helmer Verlag, Roßbach 2021, 191 Seiten, ISBN 9783897414501, Preis: 16 Euro