Wir haben nur Worte
Anlässlich des 80. Jahrestages wurde in Kiew der Toten des NS-Massakers von Babyn Jar gedacht. Bis heute wird dort ums Gedenken gerungen. Ein Ortsbesuch. Erschienen am 9.10.2021 in der taz, die Tageszeitung
Vor vielen Jahren porträtierte ich Raisa Kononenko, eine Überlebende des Massakers in Kiew, wo die Nazis am 29. und 30. September 1941 innerhalb von 36 Stunden in der stadtnahen Schlucht Babyn Jar fast 34.000 Juden und Jüdinnen erschossen. Zum 80. Jahrestags war ich dort.
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Es sei „ein schwerer Weg hierher“, sagt Frank-Walter Steinmeier, und es klingt, als bedauere er sich. „Als Deutscher und als deutscher Bundespräsident ist es ein schwerer Weg hierher.“ Er meint die Gedenkveranstaltung, auf der er spricht – in Babyn Jar, die am Mittwoch auf dem Gelände der Kiewer Schlucht stattfand, wo die deutschen Nazis Hunderttausende Menschen erschossen. Innerhalb von zwei Tagen töteten sie fast 34.000 Jüdinnen und Juden. Dann sagt er: „Es waren Deutsche, die diese Gräuel begangen haben. Worte versagen vor dem Ausmaß ihrer Grausamkeit und Brutalität.“
Wir haben aber nur Worte. Mit ihnen muss das Schweigen gebrochen werden. Das Schweigen ist „die zweite Schuld“, so nannte es der Publizist Ralph Giordano. Denn es verschweigt Unrecht und schützt die Täter. Aufgrund des Schweigens gibt es auch nicht so viele Leute in Deutschland, denen Babyn Jar etwas sagt.
In der Ukraine wiederum war das Gedenken an die Opfer auch schwierig.
Die Melnykovastraße hoch, die jetzt Illyenkastraße heißt – vom Lukyanivskaplatz aus kommend, auf dem brüchigen Trottoir. Dazu der Lärm. Busse, Trolleybusse, Lastwagen, Autos fahren über schleifenden Asphalt. Der Krach ist ein stetes Pulsieren. „Kiew ist immer laut“, sagt Hanna Hrytsenko. Sie geht den Weg, den die Jüdinnen und Juden Ende September 1941 gingen, hin zur Schlucht Babyn Jar, wo sie erschossen wurden. Damals soll es in den Straßen gespenstisch still gewesen sein, nur das Geräusch der Schritte, ein endloser Zug. So habe es eine Zeitzeugin erzählt. Anders als heute säumten da noch keine Hochhäuser die Straße. Babyn Jar lag am Stadtrand, dort wo auch Friedhöfe waren.
Nun jährte sich das Massaker an den Juden zum 80. Mal. In Kiew aber ist der Streit, wie der ungeheuren Wucht, die auf Babyn Jar liegt, angemessen gedacht wird, nicht zu schlichten. Der Streit übers Gedenken ist selbst Teil der Geschichte. Wem gehören die Toten?
Die Autorin Hanna Hrytsenko forscht zu Faschismus und der Neuen Rechten. Sie redet rasend schnell. Sie versucht, das Ungeheure zu benennen, das mit den Nazis anfing und sich als Unsagbares ins Gedächtnis der Menschen in der Ukraine gebohrt hat. Sie erzählt, dass die Deutschen nur zehn Tage vor dem jüdischen Exodus Kiew eingenommen hatten; erzählt, dass die Leute nur die Grausamkeiten der Sowjets kannten, deshalb dachten, die Nazis seien Befreier; sie erzählt, dass fünf Tage nach dem Einmarsch das Stadtzentrum in Flammen aufging; erzählt, dass die Nazis dies zum Anlass nahmen, die jüdische Bevölkerung aus der Stadt zu führen, direkt ins Verderben. Geplant war der systematische Massenmord der jüdischen Bevölkerung schon vorher.
Und dann. Dann.
Babyn Jar war eine enge Schlucht, einst Teil eines Flusstals, das durch Laufänderungen austrocknete, zweieinhalb Kilometer lang. Die Nazis sahen sofort, dass die Topografie für ihren Massenmord passte, den sie am 29. und 30. September 1941 kaltblütig durchführten. Binnen 36 Stunden waren mindestens 33.771 Kiewer Juden und Jüdinnen tot, erschossen, eine unvorstellbare Zahl. Sie geht aus dem Bericht der Sondereinsatzgruppe hervor. Einsatzgruppen folgten der Wehrmacht, Polizeieinheiten, die der SS unterstellt waren. Es waren die, die schossen. An den Rand der Schlucht wurden die Menschen geführt, mussten sich ausziehen, hinabsteigen, sich hinlegen mit dem Gesicht nach unten. Und dann. Dann.
„Ich möchte weinen und weine nicht“, sagt eine Frau, die gefragt wird, was ihr Babyn Jar bedeutet. Überall seien damals Menschen erschossen worden. 1,5 Millionen in Osteuropa wird geschätzt. „Holocaust durch Kugeln“, heißt es.
Nicht nur die jüdische Bevölkerung Kiews wurde in Babyn Jar ausgelöscht. Wenige Tage zuvor hatten die Nazis in der Schlucht Menschen aus einer psychiatrischen Klinik erschossen, als wäre es die Generalprobe. Bis 1943 mordeten sie dort weiter. Roma, Kriegsgefangene, Behinderte, Partisanen, Zivilisten. Bis zu 200.000 Opfer soll es gegeben haben. Als die Deutschen 1943 auf dem Rückzug waren, wollten sie die Spuren verwischen. Zwangsarbeiter mussten die Leichen von Babyn Jar ausgraben und verbrennen. Dann wurden auch sie ermordet. Viele der Mörder aber haben nach dem Krieg unbehelligt in Deutschland weitergelebt.
Offiziell gedacht wurde der Opfer in der Sowjetunion, zu der die Ukraine nach 1943 wieder gehörte, nicht, obwohl es schon früh informelle Erinnerungsmomente gab. Abgelegte Blumen. Kerzen. Kleine Menschengruppen, die an Jahrestagen zur Schlucht gingen. Die Sowjets bauten lieber ein Stadion auf dem Gelände und fluteten die Schlucht mit Abraum aus einer Backsteinfabrik in der Hoffnung, das Flussbett so zu füllen. Es funktionierte nicht, ein Damm brach und riss 1961 bis zu 2.000 Menschen in den Tod. Erst 1976 nahmen die Sowjets die Stimmung der Bevölkerung auf und bauten ein monumentales Mahnmal, das an die ermordeten Kiewer „Sowjetbürger“ erinnert. Über das Auslöschen der jüdischen Bevölkerung kein Wort.
Im Entstehen ist eine von Kunst inspirierte Holocausterlebniswelt. Immerhin, sie wird Menschen aus aller Welt anziehen
Nach und nach hätten, erzählt Hanna Hrytsenko, Menschen kleine Gedenkorte auf dem Gelände eingerichtet. Zeitweise habe sie bis zu 37 gezählt. Sie führt an einigen vorbei, die blieben und größer wurden. Jener Leiterwagen, der an die ermordeten Roma erinnert. Das kleine Denkmal, das den ermordeten Kindern gewidmet ist, Grabsteine, die an die jüdischen Toten erinnern, die Menora auf dem Hügel, hinter dem noch ein Rest der von Birken bewachsenen Schlucht ist. „In der Ukraine muss man die Sachen selbst in die Hand nehmen“, sagt Hrytsenko.
Sie bauen es auf Tote
Vor fünf Jahren, zum 75. Jahrestag des Massakers, wurden die Ergebnisse eines unabhängigen Architekturwettbewerbs zu Babyn Jar präsentiert. Chancen auf Verwirklichung hat keiner. Denn gleichzeitig kam privates Geld ins Spiel. Oligarchen, fast alle jüdischer Abstammung und gut vernetzt mit Russland, gründeten mit anderen einflussreichen Persönlichkeiten eine Stiftung: das Babyn Yar Holocaust Memorial Center. Sie denken groß, ihre Verbindungen zur Politik sind eng. Jetzt bauen sie es auf dem Gelände. Bauen es auf Tote.
Bei einer Pressekonferenz kurz vor der Gedenkveranstaltung zum 80. Jahrestag sitzen sieben Männer des Stiftungsrats auf dem Podium, darunter die Oligarchen Mikhail Fridman, German Khan oder Victor Pinchuk, aber auch Wladimir Klitschko, Bruder des Kiewer Bürgermeisters. Sie haben es sich zu eigen gemacht, dass des Holocausts gedacht werden müsse in Babyn Jar, denn 80 Jahre sei nichts passiert, wie einer sagt. „Wir sind das erste Holocaust Memorial Center, das direkt am Ort des Geschehens gebaut wird“, sagt ein anderer. Den künstlerischen Leiter, Ilya Khrzhanovsky, der, so der Vorwurf, in seinen früheren Projekten manipulatives und übergriffiges Verhalten förderte, nennen sie „ein Genie“. Fragen danach, wie sie die Zivilgesellschaft einbeziehen, ob sie die Disneylandisierung des Gedenkens vorantreiben, ob es später Eintritt kosten wird, schmettern sie ab.
„Sie machen das, was die Leute bisher gemacht haben, klein, wischen es vom Tisch“, sagt Hanna Hrytsenko.“
Und so ist es ja auch. Im Entstehen ist eine von Kunst inspirierte Holocausterlebniswelt, die vor allem die Verbrechen an den Juden thematisiert. Immerhin, sie wird Menschen aus aller Welt anziehen. Damit sie erfahren, was hier geschah.
Das Babyn Yar Holocaust Memorial Center hat zum Jahrestag mehrere Installationen dem Publikum übergeben. Darunter das Spiegelfeld des Künstlers Denis Shibanov und des Sounddesigners Maksym Demydenko. Ein glänzendes Metallfeld mit Stelen, das die Erde durch die Spiegelung mit dem Himmel verbindet. Die Metallflächen wurden durchlöchert und zwar mit Kugeln desselben Kalibers, mit dem auch die Nazis in Babyn Jar schossen. Dazu wurden die Namen von Opfern in Sound umgesetzt, die Vibrationen hämmern gegen die Platten und stören den Gang.
Fragile Koordinaten
Die Installation arbeitet mit der gleichen Bildsprache wie das Holocaustmahnmal und der Garten im Jüdischen Museum Berlin: Alle drei zeigen, wie fragil die Koordinaten sind, auf die man sich als Mensch verlässt. Auf Orientierung, Gleichgewicht, auf das, was man kennt.
Diese Installation verbindet das Land der Opfer mit dem Land der Täter. Was es nicht löst: Der Ort, wo gedacht wird, müsste in Deutschland sein, wie der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker sagt. „Die Deutschen müssten wissen, was Babyn Jar war.“
Verbindend ist auch die Musik, die bei der Gedenkveranstaltung aufgeführt wurde. Das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin war eingeladen, Schostakowitschs Sinfonie „Babi Jar“ in der Schlucht zu spielen. Er hatte Anfang der 60er Jahre ein Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko vertont und damit dazu beigetragen, dass über Babyn Jar in der Sowjetunion gesprochen wurde.
Der Lyriker und Holocaustüberlebende Paul Celan übersetzte ein paar Zeilen daraus so: „Über Babij Jar, da redet der Wildwuchs, das Gras. Streng, so sieht dich der Baum an, mit Richter-Augen. Das Schweigen rings schreit. Ich nehme die Mütze vom Kopf, ich fühle, ich werde grau. Und bin – bin selbst ein einziger Schrei ohne Stimme über tausend und abertausend Begrabene hin.“
Und musikalisch? Da wird sanfte Melodie verdrängt von einem unerhörten Zusammenspiel von allem, zusammengehalten von tiefen Männerstimmen, die etwas wie Trost und Sanftheit und Seele sind. Nur nicht für lange. Schon schlägt die Musik wieder dagegen, wird Schrei und Geplärr und wieder kommt doch auch Sanftheit und Linderung. Und draußen, auf der anderen Seite des durchsichtigen Zelts, ist Wind, der die trockenen Blätter wiegt.
Warum nur tiefe Stimmen, wird der Dirigent Thomas Sanderling, der russisch-deutsch-jüdischer Herkunft ist, gefragt. Er kannte Schostakowitsch gut. Müsste da nicht Schreien und Wimmern sein? Es sei Schostakowitsch nicht darum gegangen, ein Bild zu zeigen. „Die Aufgabe für Schostakowitsch war, sich zu empören“, antwortet er.
Und was machen die Kiewer und Kiewerinnen? Sie haben tags darauf einen Stolperstein verlegt für Dina Pronitschewa, die Babyn Jar überlebte, aus der Grube kroch und Zeugnis ablegte schon 1946 vor Gericht.
Denn es gibt nur Worte. Und die Musik. Und Gras, das auf Toten wächst.
Die Recherche für diesen Text wurde unterstützt vom Auswärtigen Amt.
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Und hier das Portrait von Raisa Kononenko, veröffentlicht in der taz, die Tageszeitung am 22.04.2005
In Überlebensangst
Raisa Kononenko hat Babij Jar überlebt. Sie kann kaum davon sprechen. „Der Tag, da ich durch ein Wunder am Leben blieb. Am blutigen Tag, am blutigen Tag.“ Ein schreckliches Wunder ist es. Es verdammt sie zum Leben, obwohl sie schon in der Schlucht stand, in die die Juden von Kiew gejagt wurden. Das Geräusch der Gewehrsalven erstickte deren Schreien. Auch den ihrer Mutter. Diese lag längst unter den Erschossenen. „Die Erde war heiß. Die Erde hat gebebt, als wäre sie ein Meer. Sie war heiß von den Toten.“ Wie kann die Erde heiß sein von den Toten? Sie weiß nicht warum. „Sie war heiß.“ So ist Hölle.
Kononenko will vergessen. Sie kann nicht. Sie ist jetzt 77. Je älter sie wird, desto mehr kommt der Schrecken zurück. „Manchmal hab ich solche Depressionen, dass ich nicht sprechen kann.“ Matt geht sie am Arm ihres Mannes die Turmstraße in Berlin-Moabit entlang. Die beiden haben Guenia Smuschkewitsch, eine Freundin, besucht. Jahrelang war diese Soldatin in der Roten Armee. Seit den 90er-Jahren leben die zwei Frauen nun in Berlin. Sie kennen sich vom Club der Veteraninnen der Jüdischen Gemeinde.
Smuschkewitsch drängt Kononenko immer wieder, ihre Geschichte doch zu erzählen. „Bald ist der 8. Mai. Du musst erzählen, du musst.“ Kononenko, wischt sich die feinen weißblonden Haare aus dem Gesicht. Sie hat Kopfschmerzen. Sie hat Angst vor den Bildern im Kopf. „Ich habe diese Geschichte nicht meinen Kindern erzählt.“
Kononenko braucht Zeit. Immer wieder beginnt sie von vorn. „Ich habe in einem Augenblick alles vergessen. In einer Sekunde bin ich eine alte Frau geworden.“ Es ist der Moment in der Schlucht. Sie sagt es bei einem der Treffen – mal bei Smuschkewitsch, mal bei ihr zu Hause.
Raisa Kononenko hieß einmal Raisa Pogrebinskaja. Es ist ein jüdischer Name. Die Leute in der Ukraine erkennen dies sofort, meint sie, denn schon unter Stalin hatten es die Juden schwer. Wie aber konnten sie ahnen, dass die Deutschen noch mehr Grausamkeit kennen? Wie konnten sie ahnen, dass die SS den 29. September zu ihrem Todestag bestimmt hatte? Nur zehn Tage nachdem die Wehrmacht die ukrainische Hauptstadt besetzt hatte. So schnell ging das.
Am 29. September sollen sich die Juden an der Ecke Melnik- und Dokteriwskistraße versammeln, lautete die Order der Deutschen. Mitzunehmen sind: warme Kleidung, Dokumente, Wertsachen. Bei den Pogrebinskis sind nur die Mutter und Raisa zu Hause. Vater und Bruder sind bei der Armee, die ältere Schwester hat sich versteckt. Mutter und Tochter ziehen im langen Zug nach Babij Jar außerhalb der Stadt, Babij Jar heißt Großmütterchenschlucht. Anders als angeordnet nehmen sie nichts mit. Keine Wertsachen. Keine Pelzmäntel. „Wie Bäuerinnen waren wir.“
Auf dem Weg sagt die Mutter zu ihrer 13-jährigen Tochter: „Lauf weg.“ Raisa will nicht. „Da ist schwere Arbeit, wo wir hingehen. Du bist zu jung, zu schwach. Lauf weg.“ Die Tochter will nicht. Die Mutter wird hart. Sie besteht darauf. Lässt sich nicht erweichen. Sie insistiert – wie die Smuschkewitsch es jetzt, so kurz vor dem 8. Mai, tut. „Du musst.“ Da sieht sich Kononenko in der Erinnerung weglaufen. Es ist der Moment, der ihr Schicksal besiegelt: Sie muss überleben. „Überleben!“ Kononenko sinkt in sich zusammen, wenn sie das sagt.
„Ich hatte immer Angst. Ich war ein in mir gefangenes Kind“
Die 13-Jährige rennt. Sie rennt, stürzt, fällt und findet sich im Keller einer Mühle wieder. Da sind schon andere Juden versteckt. Man sagt ihr: Sei still! Vergeblich. Eine Razzia. Wieder ist sie in der Prozession der Menschen nach Babij Jar. Zur Schlucht. Sie kommt zum Platz, wo die Leute gezwungen werden, sich auszuziehen. „Die Berge an Koffern, an Taschen, an Pelzmänteln“, sagt sie. „Riesige Berge an goldenen Sachen übereinander geworfen und die Leute, die aneinander drängen, nackt. Familien, Mütter, alte Leute, Kinder, die sich aneinander drängen mit Angst. Mit Angstaugen.“
Raisa zieht sich nicht aus. „Ich hatte doch nur das Kleid an.“ Da wird sie schon von einem Soldaten zur Grube gestoßen. „Sie ist keine Jüdin“, schreit jemand mit letzter Kraft. Raisa weiß auch nicht, warum sie plötzlich vor dem Soldaten auf die Knie fällt und fleht: „Ich bin keine Jüdin.“ Blauäugig, mit langen blonden Zöpfen – zum Feindbild passt sie nicht. Eine Sekunde ist der Soldat irritiert. Das Mädchen vor ihm bekreuzigt sich und sagt das Vaterunser auf. Sie hat es bei Freundinnen gelernt. Der Soldat lässt sie laufen. Geh, geh weg! „Ich rannte. Rannte. Ich schaute mich um. Die Felder leer.“ Und dann fällt sie und bleibt liegen und weint. Weinte.
In Babij Jar werden am 29. und 30. September 33.771 Menschen erschossen. Mehr als hundert Lastwagenladungen Kleidung wurden für die NS-Wohlfahrt abtransportiert. Die Wände der Schlucht sollen von Wehrmachts-Pionieren anschließend gesprengt worden sein.
In Kiew ist niemand für das Mädchen da. Keiner, der ihr Schutz gibt. Die Leute, die sie erkennen, schicken sie weiter. Jüdin, das heißt Gefahr. Auch ihre Schwester verneint. Sie ist auf dem Weg zu den Partisanen. „Nimm mich mit.“ – „Du bist zu jung.“ Kononenko zeigt ein Bild ihrer Schwester. Das einzige, das ihr geblieben ist. „Ich hab es auf meiner Brust getragen. Von meinem Bruder, meiner Mutter hab ich keine Gesichter mehr.“
Tagelang läuft sie von Dorf zu Dorf. Halbverhungert, verlaust. „Ich wollte nicht mehr leben.“ Irgendwann wird sie auf der Straße aufgelesen und in ein Waisenhaus gebracht. Dort wird sie als Jüdin erkannt. Sie läuft weg, wird wieder erkannt, läuft wieder weg. „Man begegnet mir wie einem Juden. Nichts zu essen, nichts zu trinken, und am Morgen überlässt man mich dem Schicksal.“ Ein Jahr geht das so. Zwischen ihr und der Welt ist keine Verbindung mehr. Kononenko wischt sich über die Stirn. „Das ist auch Schicksal, wenn man leben muss.“
Kononenko will aufhören. „Einmal hab ich die Geschichte doch schon erzählt.“ Sie legt eine Videokassette ein von Antonia Lerchs Film „Letzte Runde“. Dort, in einer Berliner Kneipe am Ende der Nacht, sitzt sie und liest das Gedicht vor, das sie jahrelang im Kopf hatte und nach dem Krieg erst aufschrieb: „Der Tag, da ich durch ein Wunder am Leben blieb. Am blutigen Tag, am blutigen Tag.“ Vor zehn Jahren wurde der Film gemacht. Stockend erzählt sie auch da. Als die Kassette zu Ende ist und der Fernseher umspringt auf eine Ratesendung, sitzt sie in ihrem Sessel und weint.
„Bald ist der 8. Mai. Du musst erzählen, Raisa, du musst“
Eines Tages im Herbst 1942 kommt sie auf ihrer ziellosen Flucht in der Ukraine an einem Bahnhof vorbei. Großes Geschrei ist zu hören. Junge Leute verabschieden sich schluchzend. Sie versteht es nicht, will es nicht verstehen, wendet sich ab und wird von einen Soldaten gepackt. Der glaubt, sie wolle türmen, und wirft sie in den Viehwaggon.
Unter ukrainischen Jugendlichen, die als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt werden, findet sie sich wieder. Sie spricht auf der ganzen Fahrt kein Wort mit ihnen, tut so, als sei sie stumm. „Sie hätten mich als Jüdin erkannt und verraten.“ Sie glaubt es, sie weiß es. In Gabelbach, in der Nähe von Augsburg, kommt sie auf einen Bauernhof. Sie ist unterernährt, zwei Jahre jünger als das übliche Alter für Zwangsarbeiter und jüdisch. Als man sie fragt, wie sie heißt, nennt sie einen ukrainischen Namen: Kononenko.
Kononenko überlebt. Ihre Mutter wollte es so. Weil sie Hunger hatte, aß sie von den Kartoffeln, die für die Schweine gekocht wurden. Sie trank die Eier, die sie auf dem Heuboden fand, aus. Sie redete kaum, traf sich nie mit anderen Zwangsarbeitern im Dorf. Nur an das kleine Mädchen in der ersten Familie, in der sie war, erinnert sie sich gern. Es brachte ihr heimlich Kuchen. Als es Scharlach bekam, benetzte ihr Raisa Kononenko oft die Lippen mit Wasser. Als sie sich selbst ansteckte, benetzte das kleine Mädchen dann ihre. „Sie waren nicht so schlecht zu mir, aber mein Leben war schlecht. Ich hatte immer Angst. Vor den Deutschen. Vor den Russen. Ich habe von meinem Land die Angst mitgebracht. Ich war ein in mir gefangenes Kind.“
Kononenko hat Angst vor ihrer Geschichte. Sie tut viel, um das Erzählen hinauszuschieben. „Kommen Sie, essen Sie.“ Kein Besuch, ohne dass sie Köstlichkeiten auftischt. „Sie ist eine ausgezeichnete Köchin“, sagt Smuschkewitsch. Kononenko hat ein opulentes Mahl vorbereitet: Zu Fisch, gebratenem Hähnchen, Krautsalat, Piroggen, Kaviar, Lachs und Gemüse gibt es Pilaw mit Schweinehaxe und Süßigkeiten. Direkt vom Tisch aus weitet sich der Himmel über Schöneberg.
Raisa Kononenko ist Raisa Pogrebinskaja. Nach dem Krieg gibt es jedoch nichts mehr – keine Urkunden, keine Papiere – die Pogrebinskajas Existenz bestätigen. Selbst ihr Vater, der einzige Überlebende der Familie, erkennt die junge Frau nicht, die 1946 wieder auftaucht, nachdem sie bei der russischen Armee noch ein Jahr Übersetzerin war. Erst die gemeinsamen Erinnerungen an früher machen sie zu seiner Tochter.
Unzählige Schreiben von jüdischen Organisationen zieht sie aus einer Aldi-Tüte, legt sie auf den Tisch. Darin wird bestätigt, dass die beiden Namen einer Person gelten. Manchmal, wenn sie ihre Dokumente wie Butterbrotpapier zusammenlegt und wieder in die Tüte stopft, entsteht der Eindruck, sie wünsche sich, dass man ihr nicht glaubt. Denn Kononenko erträgt ihr Leben als Pogrebinskaja kaum. Das Mädchen wurde in Babij Jar ausgelöscht. „Albträume“, sagt ihr Mann, ein Arzt, in gebrochenem Deutsch. „Wenn sie ihre Geschichte erzählt, dann brüllt sie nächtelang im Schlaf.“