Zu viel Weihnachten
Weil es zur Zeit passt:
Der Tag, an dem am Ende niemand mehr Lust hat, noch ein Weihnachtslied zu singen, fängt – wie an jedem 24. Dezember – mit Putzen an. Die Stube, die Küche, die Schuhe. Es war die Aufgabe der Frauen, also meiner Mutter und mir. Meine Brüder mussten die Werkstatt sauber machen, die Straße kehren, man lebte im Dorf. Mittags gab es ein schnelles Essen, danach war ich auf der sicheren Seite, wenn ich noch einen Kuchen buk und mich nicht ins Wohnzimmer begab, wo die Temperatur stieg, nachdem mein Vater den Christbaum die Treppe hoch getragen hatte. Alle wollten ihn schmücken. Alle wussten, wie der Baum am Ende aussehen sollte. Für die Mutter wie immer, für mich anders, die Brüder, wie trunken, sabottierten alles und behängten das ganze Zimmer mit Lametta. Die jüngere Schwester fürchtete Schlimmes, spielte derweil mit den Krippenfiguren und versuchte, sich unsichtbar zu machen, denn zu unterschiedlich waren die Temperamente, die in der Stube aufeinander trafen: Cholerisches, Hysterisches, Depressives, Extrovertiertes, Lakonisches.
Also Kuchen backen, aber die Mutter, die irgendwann im Laufe der Jahre diese Eingebung hatte, dass am Heiligabend Rinderzunge gegessen werden muss. Sie hatte das gepökelte Riesending überzogen mit ledriger, rauer Haut, schon auf dem Herd im großen Topf. Das ganze Haus stank beißend nach kochender Fleischlake. Das Aroma des Kuchens kam nicht dagegen an. Die Rinderzunge köchelte noch vor sich hin, als sich meine Mutter mit willigen Kindern, also den Mädchen, abends aufmachte zum Haus ihres Vaters.
Die ausladende, niedere Stube im Bauernhaus des Großvaters war warm, der Kachelofen, umrundet von der ausgesessenen Bank, die Kerzen am Christbaum rechts neben der Standuhr brannten. Der Großvater und die Tanten warteten, wir waren zu spät. Man betete den Rosenkranz. Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre war das noch so. Wir beteten kniend. Immerhin durften wir unsere Arme auf der Sitzfläche eines Stuhles abstützen. „Gegrüßet seist du Maria“, und unter den Knien lag ein Sofakissen, „voll der Gnaden“, dabei den Blick zum Christbaum, „du bist gebenedeit unter den Frauen“, – wahrscheinlich sagten wir noch „Weibern“, erst später wurde es in „Frauen“ geändert. Das Wort „gebenedeit“, hat mir immer gefallen, „und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes“. Je jünger ich war, desto mehr Menschen beteten kniend, einen Stuhl vor sich, den Rosenkranz, die vier Schwestern der Mutter, die Cousinen, manchmal vielleicht auch ein Cousin. Rechts der Christbaum. Nur die Alten saßen auf dem Sofa. „Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes.“ Fünfzig mal. Und dann noch zehn Gegrüßet-seist-du-Maria extra für den einzigen Bruder meiner Mutter, der seit Stalingrad vermisst war, den sie für tot erklären mussten, auf dessen Heimkehr sie dennoch warteten und für die verstorbene Schwester, meine Lieblingstante.
Nach der Litanei wurden Weihnachtslieder gesungen. Die Tanten sangen sehr schön, mehrstimmig, alle Strophen. Zu den Plätzchen, die nach dem Singen gereicht wurden, gab es Geschenke. Da mein Großvater arm war und die Tanten auch, waren die Geschenke bescheiden, eingewickelt in vielfach zerknittertes Papier.
Dann wurde die Zeit knapp. Vor dem Kirchgang – der Pfarrer hatte aus Altersgründen die Christmette um drei Stunden vorverlegt, die Brüder mussten schon früher los, weil sie sich, da im Musikverein, der eine Trommler, der andere Klarinettist, einspielen mussten – wurde die Rinderzunge mit Kartoffelsalat gegessen. Fast magisch ließ sich nun die raue Haut vom Fleisch lösen. Das Fleisch zart, wie Eiscreme zerging es im Mund. Der Heiligabendgeruch war grauenhaft, der Heiligabendgeschmack nicht. (Mädchen durften damals übrigens nicht in den Musikverein.) Zum Räsonieren jedoch ist keine Zeit, denn die Glocken läuteten schon.
Die Christmette begann mit „Kommet ihr Hirten“, vielleicht auch mit „Es ist ein Ros entsprungen“ und endete sicher mit „Stille Nacht“. Weil Heiligabend war, die meisten wirklich an den Messias glaubten und alle auf ihre Weise glücklich waren, herrschte eine verzauberte Stimmung. Am Ende wünschte man sich vor der Kirche „Schöne Weihnachten“ und „eine schöne Bescherung“ und hastete in der Dunkelheit zurück.
Wir gingen aber erst einmal zu den Großeltern meines Vaters. Auch hier hatte sich, wie im Elternhaus der Mutter, die Decke der Wohnstube im Laufe der Jahre gesenkt. Weil die Verwandten meines Vaters klein sind, störte das niemanden. Der Christbaum stand zwischen Fenster und Kommode und es war der einzige Weihnachtsbaum der immer schon mit elektrischen Kerzen geschmückt war.
Ein Rosenkranz wurde nicht gebetet, auch war niemand im Krieg vermisst oder gestorben, zudem hatten sich die Männer schon mit einem Schorle etwas lockerer gemacht. Locker für Gesang, denn sie hielten sich, im Gegensatz zu den Frauen, zugute, dass sie unmusikalisch waren. Für „Alle Jahre wieder“ bis „Zu Bethlehem geboren“ reichte es. Ein zweites Schorle ölte die Kehle und wieder gab es Weihnachtsplätzchen, auch ein Butterbrot für ganz Hungrige, „esst doch etwas“, kleine Geschenke, vielleicht auch eine Runde Zego? „Nein doch nicht an Heiligabend“, sagte die Tante. Das Spiel soll so ähnlich sein, wie das französische Tarock.
Kurz vor Mitternacht, standen wir endlich wieder in der Stube meiner Eltern. „Ein Lied können wir ja singen“, wird meine Mutter gesagt und sogleich eines angestimmt haben, denn auch sie war früher im Kirchenchor, „O du fröhliche“. Nur widerwillig stimmten wir ein. „Ach lassen wir das“, sagte sie dann, übers Radio, das in der Küche seit dem Zungeessen lief, weil niemand Zeit hatte, es auszustellen, dudelten sowieso Weihnachtslieder.
Wenn alle Geschenke – meist waren sie praktischer Art – ausgepackt waren, kam mein Vater, (der nun schon zwei Jahre tot ist) und überreichte uns Briefumschläge, auf die er unsere Namen notiert hatte. Neulich fand ich einen mit hundert Mark drin. Seine eigentümliche geschwungene Schrift, ich habe sie an meine Lippen geführt und den Umschlag wieder weggesteckt. Wie schön, ihn irgendwann noch einmal zu finden.