Verschwunden…
Am 26. Mai setzte mein Kollege Martin Reichert seinem Leben ein Ende. Warum er es tat? Auf diese Frage gibt es keine Antwort.
Zuerst war da Unglauben. Dann Fassungslosigkeit. Warum? Warum? Schmerz, oder mehr ein Vibrieren, als zerre die Luft innen im Körper an mir, spürte ich erst nach drei Tagen. Wie auch Horror und Grauen – du, Martin, „mein kleiner Bruder“, wähltest einen so harten Tod. Dann aber kam Wut auf. Von einem Moment auf den anderen. Ich bin wütend auf dich. Jemand muss es sein. Die, die dir näher standen, können es vielleicht noch nicht. Sich umzubringen ist eine Aggression gegen sich selbst und eine Aggression gegen alle, die dich liebten. Deren gibt es viele.
Wir haben dich doch auf Händen getragen, deiner genialen Sprachkunst sind wir bewundernd gefolgt, auch wenn du dich bitten ließest. Nein, betteln mussten wir. Da ist einer, der hat Musik in sich, aber er spielt sie ganz selten. Unser Fehler, dass wir dich als Diva feierten, nicht als zauberhaften, aber verletzlichen Menschen. Alles im Leben hat dich verletzt. Das Leben war deine Anmaßung. Ich hätte dich konfrontieren sollen, mit den Dämonen in dir, die ich sah.
Es gab doch Zeiten, da hast du dich mir anvertraut. Trotz aller Differenzen, trotz dieses Abstands, trotz dieses schwulen Kontinents, der mir, obwohl lesbisch, fremd ist, auf dem du dich wie ein Spitzentänzer bewegtest. Alles an dir wird mir fehlen. Du bist verschwunden. Wie die Orchidee vor dem Haus im Schwarzwald, wo ich manchmal bin. Ein „Knabenkraut“. Letztes Jahr wart ihr beide noch da.
Dieser Text ist ein Auszug einer Sammlung von Gedanken zu Martin Reichert, die am 2. Juni 2023 in der wochentaz erschien.
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