„So viele Jahre, wer weiß“
Am 28. Juli 2023 war die Beisetzung meines Kollegen Martin Reichert (1973-2023). Hier meine Trauerrede:
Lieber Bostjan, liebe Familie Reichert, liebe Freundinnen und Freunde von Martin
Wir kommen heute zusammen, um uns von Martin Reichert zu verabschieden, der nur 50 Jahre alt war, als er starb. Ich hatte das Glück, 13 Jahre seines Lebens seine Kollegin zu sein in der taz. Im alten taz-Gebäude trennte uns nur eine stets offene Tür, im neuen Gebäude saßen wir nebeneinander.
Über sein Leben in Wittlich haben wir von Ilka und ihrer Schwester schon etwas erfahren. Ich kann darüber sprechen, wie ich ihn als Kollegen und Freund erlebte. Denn für uns beide selbst überraschend, schwammen wir auf einer Wellenlänge und das hat es uns leicht gemacht, uns näher zu kommen.
Im alten taz-Gebäude haben wir unzählige Gespräche im direkt an unsere Arbeitsplätze angrenzenden Nottreppenhaus geführt. Vor allem als Martin noch rauchte. Dort wurde über taz-Ärger, über Liebeskummer und neue Lieben, nämlich der zu dir Bostjan, über alle möglichen Traurigkeiten und Freuden gesprochen. Meistens eher Traurigkeiten. Denn da Martin ein großer Melancholiker war, dem das Leben gern zu schaffen machte, gab es immer wieder Themen, die ihn mutlos sein ließen.
Wenn er an meinem Schreibtisch vorbeiging, um zu rauchen, konnte ich an seinem Gang erkennen, ob es die Sucht ist, die ihn ins Treppenhaus treibt, oder ob es trübe Gedanken sind. Wenn es Sorgen waren, bin ich ihm mitunter gefolgt, um nachzufragen. So kommt es, dass ich einiges von Martin wusste und seine verletzliche Seite kennenlernte. Da mir die melancholische Leere, die ihn mitunter plagte, nicht fremd ist, war das die Plattform für unseren Austausch.
Martin kam 2004 zur taz. Anfangs stemmte er – vor allem zusammen mit Jan Feddersen – das sogenannte taz-mag, das dann in der sonntaz aufging. Martin war nicht einverstanden damit, dass das taz-Mag abgeschafft wird, er wirkte wie verloren am Anfang in der sonntaz, aber dann schickte er sich doch ins Unvermeidliche.
Schnell wurde in der damaligen sonntaz klar, er ist ein Joker. Hatte man ihn überzeugt, dass er sich eines Themas annehmen soll, schüttelte er fast in Sekundenschnelle einen brillanten Text aus dem Ärmel, reich an Gedankenspiel und Wortfreude, versehen mit einer Überschrift, die sticht. Niemand konnte so gut Titeln wie er.
Seine Vielseitigkeit, seine Eloquenz fiel nicht nur der Redaktion und Verlagen auf. Er hat vier Bücher geschrieben. Und bei einem fünften war er der Ghostwriter. Auch bei der taz-Genossenschaft, der Siegesäule und vielen anderen war er ein gern gesehener Schreiber und angenehmer Kollege. Seine Nonchalence und die leichte Art, mit der er durch Themen führte, machte ihn zudem als Moderator beliebt. Auf Konfrontationskurs ging er dabei selten.
Denn – und das unterschied uns dann doch – Martin war im Gegensatz zu mir sehr konfliktscheu. Wurde es in der Redaktion hitzig, war er der erste, der verschwand. Er war lieber der Vermittler, der Mediator, der, der Jüngeren half, sich im taz-Kosmos zurecht zu finden. Und manchmal auch in der Welt. Oder besser, der schwulen Welt. Junge Kollegen nahm er an die Hand, führte sie durch Szene, Kneipen, Darkrooms. Sie sollten nicht verunsichert in die schwule Identität entlassen werden wie er. „Schwuler Ziehvater“ nennen ihn einige Kollegen deshalb.
Wenn es allerdings hart auf hart kam, hielt Martin stand. So damals, als wir gemeinsam im Redaktionsrat waren. Das war in einer Zeit, als ein Führungskonflikt die taz fast zerriss. Obwohl er sich gerne herausgehalten hätte, sagte ihm sein Scharfsinn, dass gehandelt werden muss, und er hat im Rahmen seiner Möglichkeiten genau das getan.
Von einem Aspekt seines flexiblen Geistes profitierte ich mit Freude: Da Martin auf Ausgleich bedacht war, musste er im Grunde auch alles wissen und sein Ohr überall haben. Und tatsächlich wusste er alles. Mitunter, wenn wir im hinteren Treppenhaus standen, fragte ich ihn nach dem neuesten Tratsch. Dann klärte er mich auf, wer mit wem, wer gegen wen, was das Dies von jemandem war und das Jenes von jemand anderem, welche Liebesbande wo schweben und wo der Hammer hängt. Manchmal klärte er mich sogar über Hintergründe von Konflikten, in die ich geraten war, auf.
Von seiner großen Fähigkeit zu vermitteln, habe ich an einer weiteren Stelle ebenfalls profitiert. Mitunter nämlich, wenn ich Themen vorgeschlagen habe, die mir unter den Nägeln brannten, erntete ich Unverständnis bei meinen Mitkollegen und -kolleginnen. Martin aber nahm den Ball auf, den ich warf und spielte ihn in seinen Worten zurück. Plötzlich wurde verstanden, was ich meinte. Es war wie eine Geheimsprache zwischen uns, wie eine dritte Sprache. Ich vermisse sie jeden Tag in der Redaktion.
Martin hat Generationenkonflikte entschärft, er hat Geschlechterkonflikte entschärft, er hat Streitereien entschärft. Wie er es gemacht hat, ist mir bis heute ein Rätsel. Wie so vieles plötzlich rätselhaft ist, vor allem sein selbstgewählter Tod. Die Nachricht ging wie eine Schockwelle durch unsere Redaktion. In unzähligen Gesprächen und Telefonaten versuchten wir dem Warum auf die Spur zu kommen. Und wissen es nicht. Und auch der Frage, was wir übersehen hatten, steht bis heute im Raum. Worauf haben wir zu wenig geachtet? Was müssen wir aus seinem Tod lernen?
Rätselhaft bleibt mir sein Tod auch deshalb, weil die Coronazeit zu einer Entfremdung geführt hat. Plötzlich saß ich nicht mehr neben ihm, konnte seine Verfasstheit nicht erspüren, sondern sah ihn nur auf dem Bildschirm. Entweder mit einer Landkarte im Hintergrund – dann war er in Slowenien. Oder mit einem Bücherregal im Hintergrund – dann war er in Berlin. Ging es ihm gut? Ging es ihm schlecht? Wenn ich in kurzen Mails nachfragte, ging es ihm immer gut.
Als wir Anfang des Jahres wieder langsam in die Redaktion tröpfelten, konnte die alte Vertrautheit nicht so schnell neu hergestellt werden. Ich sah ihn, sah seine hängenden Schultern und wusste doch da schon, dass er die taz verlassen würde und zum Spiegel geht. Wir alle dachten, dass er etwas Neues beginne, müsse ihn antreiben, Aber nichts an ihm wirkte wie Aufbruch. Einmal dachte ich: „Man kann ja schlurfen, aber so schlurfen muss man gewiss nicht.“ Als ich nachfragte, wie es ihm geht, wiegelte er ab, obwohl keine Freude aus seinem bevorstehenden Wechsel zum Spiegel herauszuhören war.
Als der Abschied zum Spiegel öffentlich wurde und ich ihm schrieb dass ich ihn vermissen werde, antwortete er: „So geht es mir auch, ich werde Dich vermissen. Und habe immer gerne mit Dir gearbeitet. Weißt Du noch in der „sonntaz“? Wir beide waren eigentlich problemlos in der Lage, das Ding alleine zu machen ?
So viele Jahre, wer weiß.
Wünsch mir Glück, sei gedrückt und wir bleiben so oder so in Verbindung.
Herzlich, Martin“
Jetzt ist die Verbindung abgebrochen. Und ja, Martin, ich wünsche dir Glück.
Lieber Bostjan, liebe Verwandte, Freunde, Freundinnen, Kollegen und Kolleginnen,
Ich weiß nicht, ob ihr das Gefühl kennt, dass eine Rede bei einer Trauerfeier nie aufhören soll. Denn so lange wir über den Verstorbenen sprechen, lebt er. Lebt in diesem Raum. Aber irgendwann, gibt es keine Worte mehr. Deshalb möchte ich zum Abschluss ein Gedicht aufsagen.
Es heißt: „Der Römische Brunnen“von Conrad Ferdinand Meyer.
Es beschreibt einen kleinen Brunnen mit drei untereinander liegenden Schalen, die oberste ist die kleinste die unterste die größte. Aber dieses Gedicht besingt mehr als nur diesen Brunnen, es besingt den Lauf des Lebens. Und es tröstet:
Aufsteigt der Strahl und fallend gießt
Er voll der Marmorschale Rund,
Die, sich verschleiernd, überfließt
In einer zweiten Schale Grund;
Die zweite gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich
Und strömt und ruht.
***
Kreisen Ihre Gedanken darum, sich das Leben zu nehmen? Sollten Sie von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner, anonym. Rufnummern: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222