Schwertlilien können singen

Ob sein Herzschlag schneller wird, als er spürt, dass die U-Bahn kommt? Jener sanfte Luftzug, jenes schleifende Rauschen, anfangs nur Hauch, das seine Füße, die nackt in den Sandalen stecken, massiert, seine großen Brüste leicht zittern lässt.

Und ob ich mir das vorstellen kann?

Und dann, als der Zug näher kommt?

Die Luft wird stürmisch, das Rauschen schwillt an, wird lauter, wird ein Rattern, ein Trommeln, ein Hämmern, dieser immer härter werdende Lärm, der ihn auf den Boden drückt, sein Blut in den Adern sich aufpumpen lässt bis kurz vor dem Zerreißen und ihn schreiend umschlingt. Seine Augen geschlossen, damit die Nacht, die schon vorher da war, bei ihm bleibt, obwohl doch helllichter Tag.

Ich kann es mir nicht vorstellen.

Das Rattern, das Treiben, das Hämmern wird noch lauter, wird zu einem Knall. Und dann, am Ende des Lärms, ist Stille. Ist nichts mehr. Ist ein Punkt.

Der große Zeiger der Uhr am Gleis springt um.

Nach dem Nichtsmehr, legt sich das Entsetzen auf die Gesichtern der anderen. Der, die am Gleis warteten. Der, die dazu kommen. Der, die helfen müssen. Der, die es etwas angeht. Jemand übergibt sich. Das Entsetzen wird weitergereicht. Durch Telefonleitungen, Schallwellen, von Mund zu Mund. Als wäre Reden Beatmen.

Die, die ihn kannten, gehen in der Zeit rückwärts. Der Morgen, der Mittag. Sie halten sich am Gewesenen fest.

Am Morgen, als er aufwachte, lange nicht aufstehen konnte, sich dann endlich schwer aus dem Bett erhob, nicht in den Spiegel schaute. Es gab gar keine Spiegel mehr im Zimmer, im Bad. Er hatte sie abgehängt. Und wo das nicht ging, denn es war nicht sein Zimmer, er wohnte zu Untermiete, möbliert, nichts sollte sein sein, hatte er Handtücher darüber geklemmt Auch über den Spiegel am Eingang. Er blickte nicht einmal an sich herunter. Der Körper war eine Zumutung, das weiche Kinn, die Brust, der Bauch, die Hüften, die Schenkel, die Oberarme, sie hatten jedes Maß verloren. Als er sich nicht mehr sah, wusste er, dass es sein Tag war.

„Ich bin Leo“, hatte er schon in der Schule zu den anderen gesagt. Zu mir auch. Ich saß neben ihm. Merken konnten sich das mit dem Namen alle, es war nicht schwer. Leo, Leonie. Das änderte nichts für uns, die wir ihn kannten. „Leo, hilfst du mir bei Mathe?“ Für ihn allerdings änderte sich alles – sein Geheimnis. Für sich konnte er ein anderer sein. Nur dass Leos Körper sich in der Pubertät nicht an seine Vorgaben hielt. So weich, so großzügig, so üppig und ausladend wie er wurde. Sie, meine Leo. Die mit dem großen Herzen, den schönen Gedanken. Sie wusste alles. Ich fühlte mich aufgefangen in ihrer Nähe. Dass das umgekehrt für ihn nicht galt, habe ich lange nicht verstanden. Dass er mir nicht sagen konnte, was in ihm brodelte.

Damals, als sich sein Körper ihm verweigerte, begann es, dass er versank. Erst ganz langsam, kaum merkbar rutschte er in sich hinein. Und ein paar Jahre später, rasend schnell und immer tiefer.

Dabei hätte sie doch er sein können. Und er sie. Mir war das gleich. Aber er sah das nicht so. In der Schule und auch danach trafen wir uns oft. Manchmal täglich. Es waren Begegnungen, wo es um alles ging. Wir versuchten uns durch die Pubertät zu lotsen. Unsere Melancholie schien uns zu schmücken. So jedenfalls empfand ich es. Dass seine Melancholie mehr war, und wie viel mehr, wagte ich bestenfalls zu ahnen.

Manchmal trafen wir uns weiter bei der Bank vor der Schule, auch als wir längst studierten, Leo studierte, ich tat mehr so. Er war der Mathematik verfallen. Genauer der Logik. Wenigstens die Wissenschaft sollte klar sein. Binär. Plus, minus. Richtig, falsch. Ich ließ mir von ihm erklären, warum eine Behauptung bewiesen sei, wenn das Gegenteil falsch ist und verstand es nicht, wollte es nicht verstehen. Wie zwei alte Menschen, die in Gedanken in der Vergangenheit hingen, saßen wir auf der Bank, redeten nicht viel – obwohl ich meinte, dass wir noch gar keine Vergangenheit hatten. Da täuschte ich mich aber.

Das mit dem Gegenteilsbeweis ließ mich nicht los. „Können Schwertlilien singen?“, fragte ich ihn einmal, als wir zusammen saßen im Frühjahr und im Beet hinter der Bank die Iris, die Schwertlilien also, blühten. Und er, „hast du sie schon mal gehört?“, was ich verneinte. „Muss man Gesang hören, damit es Gesang ist?, fragte er zurück. So ging das immer weiter. Es war ein schönes Spiel.

„Sag“, fragte ich Leo eines Tages, als wir auf der Bank saßen, und ich hatte die Frage lange vor mir her geschoben, „wenn du ein Mann bist, weil das Gegenteil, nämlich dass du eine Frau bist, falsch ist, was dann? Er schwieg lange. Dann sagte er: „Da siehst du es“. Ich hätte es dabei belassen sollen. Nur, ich fragte weiter: „Aber wie beweist du es?“

Leo musste niemanden etwas beweisen, außer sich selbst. Das hatte ich nicht verstanden.

Wir trafen uns trotzdem weiter, aber er wurde, so scheint es mir heute, weil, wenn über jemanden geredet wird, der tot ist, alles Zuschreibung ist, schweigsamer mit jedem Mal.

Als er in die USA ging, um an der Columbia in New York zu promovieren, als Leonie übrigens, denn er wollte seinem Körper keine Gewalt antun, er wollte sich mehr der Gewalt, die die Zuschreibungen ihm antaten, aussetzen, sahen wir uns seltener.

Einmal besuchte ich ihn in New York. Er zeigte mir die Stadt, die offensichtliche, Brooklyn Bridge, Freiheitsstatue, Central Park, das Denkmal, wo einst die Twin Towers standen. Die versteckten Seiten zeigte er mir auch. Einmal nahm er mich mit in einen Club, wo die ihm Gleichgesinnten sich trafen. Dort stellte Leo mir seine Freundin vor, die seinesgleichen war, nur dass ihr Ausgangspunkt ein anderer war – ein schönes Verwechseln. Im Club war es, als sprächen die Leute in einer Geheimsprache miteinander, einer, die nur sie verstanden. Es wirkte, als rochen sie meine Eindimensionalität. Ich fühlte mich fremd.

Als ich zurückflog, machte ich mir keine Sorgen um Leo. Es ging ihm gut, so viel meinte ich verstanden zu haben. Nur, ich hatte gar nichts verstanden, hielt ihn für einen Melancholiker, dachte „he sings the blues“, hörte dazu das Lied von Billie Holiday „Lady sings the blues“ in mir wie ein feines Vibrieren, ohne dass es irgendwo zu hören war, sah nicht, dass er seine Traurigkeit hinter der Traurigkeit der anderen versteckte. Die Nachricht, dass sich seine Freundin das Leben nahm, weil sie es unerträglich fand, erreichte mich lange nicht. Und bei den seltenen Telefonaten manchmal mit Video während der Pandemie, die wir hatten, wollte er nicht darüber reden. Auf den Bildschirmen war ohnehin alles wie tot.

Dass Leo wieder zurück zog nach Deutschland ziehen wollte, und es auch tat, genauer nach Berlin, hatte er niemandem gesagt. Denn er suchte den Kontakt zu niemanden mehr, suchte nur die Welt der Zahlen, wo Dinge aufgingen. Wie glücklich war ich, als wir uns in dieser Stadt, die doch, das sagen alle, ein Dorf ist, zufällig über den Weg liefen. Erst sah ich nur seine Gestalt, eine gebeugte, eine mit hängenden Schultern. Es dauerte, bis ich Leo erkannte. Er stand, welch Zufall, am Leopoldplatz im Berliner Wedding, betrachtete die von Schinkel gebaute Kirche. Ich wohne nicht weit davon.

Oder ich meinte, er betrachte diese Kirche, die dem Platz ihr italienisches Flair verleiht, wäre nicht die Armut drumherum, die Obdachlosen, die sich dort treffen. Der Platz, der so viel Leichtigkeit haben könnte, hat keine. Wobei das auch unwichtig ist, denn wer in einem Loch steckt, sieht das Außen nicht.

Ich näherte mich der Gestalt, umrundete sie aus einer kurzen Entfernung, um sie von vorne zu sehen und rief „Leo“, nicht laut, aber so, dass er hätte aufmerksam werden müssen. Ich rief noch einmal. Beim dritten Mal schaute er in meine Richtung und ja, er war es. Meine Leo, mein Freund. Ich ging auf ihn zu. „Leo, du hier, Leo, seit wann bist du wieder in Berlin? Leo, warum hast du dich nicht gemeldet, ich hätte dich abgeholt vom Flughafen.“

Leo schaute mich an, dann machte er einen Schritt auf mich zu. Wir umarmten uns. Nicht auf die freudige Art von früher – eher auf eine, die zeigte, dass man es wieder lernen musste, nach der Coronazeit.

Er lebte schon drei Monate wieder in der Stadt. „Schon“, sagte ich. „Ach, was ist Zeit“, antwortete er. „Geht es dir gut?“ Ich erschrak selbst ob der Zweifel, die ich bei meinen Worten mitschwingen hörte. „Ja“, war seine Antwort. Sie schnitt den Faden ab. „Komm wir trinken Kaffee.“ Er ging mit; seine Schritte schlurfend. „Leo, was ist los?“ Er lenkte ab, sagte, dass er an der Technischen Universität habilitieren wolle. Erst als wir uns eine Weile gegenüber saßen, ich fragte, wie es ihm gehe nach dem Tod der Freundin, schien mir, dass er weicher wurde. Es war schon bald ein Jahr her. „Ist das Ende ein Ende, weil es kein Anfang ist?“, fragte ich und wollte an unser altes Spiel anknüpfen, weil ich auf Leichtigkeit hoffte.

Als wir uns verabschiedeten, zuckte er mit den Schultern, sagte: „Wünsch mir Glück und wir bleiben so oder so in Verbindung.“

So. Oder so.

Und dann kam der Anruf. Seither sehe ich den Zug aus dem Tunnel aufsteigen. Und wenn ich an U-Bahn-Gleisen warte, weine ich.

Und ja, Leo, ich müsste immer weiter schreiben, mich an dein zauberhaftes Lachen erinnern, deine blauen Augen, deine schönen Hände, dein Faible für edle Schuhe, an alles, jede Pore deiner Haut, um viele Seiten zu füllen, denn so lange ich schreibe, lebst du.

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Dieser Text entstand für die Anthologie „Das lesbische Auge“, Ausgabe 23, zum Thema „Einsamkeit“. Konkursbuchverlag,
ISBN 978-3-88769-923-9

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