Das Stolpern am Ende des Schrittes
Im August des Jahres 2015 haben wir in der taz eine 08/15-Ausgabe gemacht. Der folgende Text von mir sollte das 08/15-Gefühl wiedergeben. Ein Text ist es geworden, den ich sehr mag. Es geht um:
Alltag Nichtstun, Dinge tun. Warten, dastehen. Keine Geschichte, bloß eine Erinnerung an die Gegenwart
Wartet, rief das Kind, es hatte eine dünne Stimme. Da drehten sich die Eltern um und warteten. Obwohl nicht klar war, ob sie die Eltern sind. Mann, Frau, Kind – aus einer Stimmung heraus sind sie es hier. Wartend wischte sich der Mann den Schweiß von der Stirn. Er schwitzte, die Anstrengung war eine, die sich auf ihn gelegt hatte, obwohl er nichts tat, dastand, seine Konturen verschwammen in der Sommerhitze, er sagte nichts, auch die Frau neben ihm schwieg. Sie warteten, er blickte zurück zum Kind, sie nach vorne in die Weite – eine Straßenschlucht, Bäume. Die Tram fuhr vorbei.
Keine Geschichte wird das. Nichts. Der Mann wartet. Die Frau wartet. Das Kind kommt trödelnd hinterher. Dann gehen sie weiter, die Straße hoch.
„Man muss auch warten können“, sagte einst eine Künstlerin, die erst spät bekannt – oder vielleicht nie bekannt wurde, in einem Interview. Ich weiß nicht mehr, wer, habe den Namen vergessen.
Keinen Namen haben. Kein Ziel, auf das hin zu fiebern dem Leben Struktur gäbe. Stattdessen nur dieser Tag. Und nach dem Tag ein anderer Tag. Dazwischen tut sie etwas. Wer? Die Frau. Sie steigt die Treppen hoch in ihre Wohnung. In jeder Hand eine Tasche. In jeder Tasche ein paar Flaschen Wasser. Die Wohnung liegt im dritten Stock. Sie hebt die Arme, als wären die Taschen Hanteln. Sie hebt die Taschen und dann entspannt sie sich wieder, hebt die Taschen und entspannt sich und als sie oben ankommt, hat sie vergessen, was sie tat. Sie trägt die Taschen in die Küche, schraubt eine Flasche auf, trinkt ein Glas Wasser, stellt das leere Glas auf dem Tisch, lässt es stehen.
Nachdem sie etwas tat, tut sie etwas anderes. Abwechslung, so rot wie die Sonne rot ist beim Aufgang an einem schönen Tag, auf den ein schöner Tag folgt.
Das erste Licht am Morgen, das mit schlaftrunkener Wucht auf das Bewusstsein trifft – ah ein Morgen – und weggewischt wird mit dem, was keinen Plan hat: Sein, Leben. Sie steht auf, kocht sich einen Tee, trinkt, wäscht sich, zieht sich an, schmiert sich ein Brot, nimmt die Vase mit den verwelkten Blumen vom Tisch und stellt sie auf die Spüle, putzt sich die Zähne – so viele reflexive Verben – sich, sich, sich – als stünde man im Mittelpunkt seiner selbst und nicht der Zeit, nicht des Raums.
Das Universum ist entstanden, weil etwas weitergehen musste, als es nicht weiterging. Es ist wie das Spiel, das wir als Kinder einst spielten. Alle denken sich aus, was nach dem kommt, was ist? Was kommt am Ende des Sandes? Der Wind! Was kommt am Ende des Windes? Die Stille. Was kommt am Ende der Stille? Die Hand der Mutter, die einem übers Gesicht fährt!
Und am Ende der Hand? Ein Sturm. Am Ende des Sturmes – eine Saite. Am Ende der Saite – das Wasser. Am Ende des Wassers – der Kondensstreifen. Am Ende des Kondensstreifens – eine Schlange. Wir spielen es, bis uns nichts mehr einfällt. Oder bis jemand schreit: „Ein blödes Spiel“.
Jetzt ist die Zeit vorbei, als Weitergehen ein Spiel war. Am Ende des Aufstehens ist das Gehen. Dahin, wo die Aufgabe ist. Auf dem Weg möchtest du, (wer?), heraustreten, was einem Stolpern gleichkäme. „Wartet“, schrie das Kind. Im Stolpern am Ende des Schrittes endlich schaute jemand auf uns. Und da, in diesem Augenblick, wenn jemand aufschaut, sind wir.
Aber niemand tritt heraus.
Denn am Ende des Stolperns liegt Scham. Also geht, wer geht, weiter. „Und was kommt am Ende der Scham?“, fragt schwer atmend das rennende Kind, das einst „wartet“ geschrien hatte? – Die Liebe. Zu sich selbst.