Tausend Kilometer bis Auschwitz
Heute vor 70 Jahren wurde das KZ Auschwitz befreit. Erst vor ungefähr zehn Jahren erfuhr ich, dass ich aus demselben Dorf stamme wie einer der SS-Täter von Auschwitz. Das verändert die Erinnerung. Dieser Text wurde am 23. Januar 2010, also vor fünf Jahren, in der taz veröffentlicht. Daher der andere Jahrestag, der im Text genannt wird.
Am 27. Januar 1945 hat die Rote Armee die Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz befreit. 65 Jahre ist das her. Und jetzt? Wie daran erinnern? Welche Geschichte dazu erzählen? Die vom SS-Oberscharführer Josef Schillinger und dem Dorf, aus dem er und ich stammen? Oder die vom Schicksalslosen? Imre Kertész hat einen Roman über ihn geschrieben. Der Schicksallose, das ist eine Figur mit Kertészs‘ Gedächtnis. Drei Tage war er in Auschwitz, bevor er nach Buchenwald weitertransportiert wurde wie Vieh. Warum, weiß er nicht. Zufall. Zufall ist Schicksalslosigkeit. Schicksal, das wäre Bestimmung. Gerade habe ich den Roman gelesen.
Im Grunde ist es gleich, wer über Auschwitz geschrieben hat und welche Worte für den Zug der Menschen in die Gaskammern gewählt werden. Denn seit ich weiß, dass Josef Schillinger einer der SS-Verbrecher war, die die Menschen in die Gaskammern trieben, lese ich die Erinnerung aus Auschwitz anders. Hautnaher. Zeitnaher. Ortsnaher. Wortnaher.
Schillinger wurde etwa ein halbes Jahrhundert vor mir im selben Dorf geboren. In Südbaden, bei Freiburg liegt es, nicht weit vom Rhein entfernt. Oberrimsingen heißt es. Heute leben ungefähr 1.500 Leute im Ort, zu seiner Zeit vielleicht die Hälfte.
Nur zufällig habe ich dort vor sechs Jahren von Schillinger erfahren. Sie haben früher nicht über ihn gesprochen. Zumindest nicht mit Nachgeborenen. Dabei kannten sie ihn. Im Dorf kennt sich jeder. Er beichtete in derselben Kirche wie die anderen Leute, ging auf dieselbe Schule wie seine Zeitgenossen, trank das Bier in der Wirtschaft. Man kaufte beim selben Bäcker das Brot. Er ging dieselben Dorfstraßen entlang, die meine Großeltern, Eltern, Verwandten, die alle Leute im Dorf entlanggingen. Und später auch ich. Es ist nur das Dorf, das mich mit Schillinger verbindet. Dennoch bin ich seit sechs Jahren näher an die Seite des Täters gerückt.
Josef Schillinger war SS-Oberscharführer und Rapportführer des Männerlagers in Auschwitz. Rapportführern oblag die tägliche Meldung des Häftlingsbestands, die Durchführung und Überwachung der Lagerstrafen und andere Kontrollen. „Ein untersetzter, breitschultriger Mann mit einem Affengesicht, ein verkommenes Subjekt, ein Schrecken der Häftlinge“ war er, schreibt Wieslaw Kielar über Schillinger. Fünf Jahre war Kielar in Auschwitz inhaftiert und überlebte.
Und Tadeusz Borowski, Überlebender von Auschwitz, der sich 1951 selbst tötete, schreibt über Schillinger: „Der Hieb seiner Hand war wuchtig wie ein Knüppel, spielend zerschlug er einen Kiefer, und wo er hinschlug, floss Blut.“ Sein Name sei oft in einem Atemzug mit jenen Auschwitz-Mördern genannt worden, „die sich damit brüsteten, höchstpersönlich mit der Faust, dem Knüppel oder der Waffe Zigtausende von Menschen umgebracht zu haben.“
Im Jahr 1943 allerdings geschah etwas: ein seltener Aufstand in Auschwitz. Schillinger wurde am 23. Oktober jenen Jahres bei einer Revolte vor dem Krematorium I von Franziska Mann alias Lola Horowitz – Tänzerin sei sie gewesen – erschossen. Der Vorfall ereignete sich etwa so: Die jüdischen Frauen und Männer, die an jenem Tag in Auschwitz ankamen und zu den Gaskammern geführt wurden, wussten, was sie erwartet, berichten die Auschwitz-Überlebenden Borowski und Kielar. Deshalb war viel SS vor Ort. Angeblich trieb sich Schillinger gern dort rum, wo Frauen geschunden wurden. So auch in jener Oktobernacht. Er folgte den Jüdinnen in den Entkleidungsraum des Krematoriums, wo einige Frauen sich weigerten sich auszuziehen. Der SS-Mann aus meinem Heimatdorf soll versucht haben, der Tänzerin die Kleider herunterzureißen. In dem Handgemenge ergreift die Frau seine Pistole und schießt auf Schillinger, der kurz danach stirbt. Ein anderer SS-Mann wird zudem verletzt. In der Folge kommt es zu einem Aufruhr der Menschen im Entkleidungsraum. Die SS schlägt ihn nieder, baut Maschinengewehre auf und erschießt alle Juden und Jüdinnen des Transports.
Schillinger wurde mit viel Getöse, Salut und aufschlagenden Stiefeln eine Woche später im südbadischen Dorf beerdigt. Der Friedhof liegt außerhalb. Zwei Kilometer konnten die SSler marschieren bis zum Grab. Wer im Dorf damals war, hat es erlebt.
Nach dem Krieg bekam Schillinger ein Grab auf dem Ehrenfeld der gefallenen Soldaten des dörflichen Friedhofs. „Wer waren die Soldaten?“, habe ich die Erwachsenen als Kind auf dem Friedhof manchmal gefragt, wenn wir vor deren Gräbern standen. „Sie sind nicht von hier.“ – Keiner? – „Nur der Schillinger.“ Und?
Gras wuchs darüber. So lange zumindest, bis der Historiker Andreas Meckel im Jahr 2003 öffentlich machte, wer Schillinger war. Daraufhin musste das Grab entfernt werden. Sein Name wurde auch aus dem Kriegerdenkmal, das neben der Kirche steht, gefräst.
Nach sechzig Jahren endlich erfuhren Jüngere wie ich mehr. Schillinger bekam ein Gesicht. Ein jähzorniger Hitzkopf soll er gewesen sein, sagen die Leute, die sich erinnern. Im Dorf kann man so einem Grenzen setzen. Aber in Auschwitz? Auf Heimaturlaub soll er meinem Großvater einmal gesagt haben. „Wenn das rauskommt, was wir da machen, dann Gnade uns Gott“, berichtet meine Tante, die damals selbst noch ein Kind war. Andere erzählen, er hätte gebeichtet. „Der Pfarrer hat ihm die Absolution erteilt.“ Pfarrer, die würden doch wissen, was gut und was böse sei.
Als der Grabstein entfernt werden musste, fühlten sich viele im Dorf an den Pranger gestellt: „Den alten Mist hervorholen nach sechzig Jahren“, schimpften sie. Zwischen Wissen und Nichtwissen war eine Mauer gebaut worden. Aus Schweigen. Nun brach sie zusammen. Dabei gibt es keine Befreiung von Zeit und Ort.
Imre Kertész schreibt, dass es für einen, der Auschwitz erlebt hat, niemals eine Vergangenheit von Auschwitz gibt. „Mir ist der Holocaust nie im Imperfekt erschienen“, schreibt er.
Und für mich? Das Dorf verbindet die Dörfler, selbst wenn sie nicht verwandt sind. Wenn ich heute von SS-Männern in Auschwitz lese, sehe ich Schillinger. Obwohl ich kein Bild von ihm kenne. Wenn Kertész die Selektion an der Rampe beschreibt, sehe ich Schillinger. Obwohl ich kein Bild von ihm kenne. Und wenn Schillinger zum Bahnhof will, um tausend Kilometer nach Auschwitz zu fahren, sehe ich die Straßen im Dorf, die er geht.