Ein überaus unartiges Buch
Silvia Bovenschens posthum erschienener Roman „Lug & Trug & Rat & Streben“ ist eine Abrechnung mit der Zivilisation – eine, die mit Zuneigung zum Menschen geschrieben ist. Wer mehr über die Autorin wissen will, hier das Interview, das ich kurz vor ihrem Tod mit ihr führte.
***
Was war das noch mal: Mummenschanz? Und wer war eigentlich Odin? Oder Grundelhom – kommt der wem bekannt vor, und wo liegt denn Mispelheim? Wer Silvia Bovenschens posthum erschienenes Buch „Lug & Trug & Rat & Streben“ liest, muss darauf gefasst sein, dass Schwindel eintritt ob all dessen, was die Autorin auftischt. Schwindel? Ja, in jedweder Form. Menschen treten auf – echte und unechte, Geschichten werden aufgetischt – falsche und richtige, an der Zeit wird rumgeschraubt – Vergangenheit, Gegenwart – alles egal.
Verstehen dagegen ist nicht zum Nulltarif zu bekommen bei diesem Buch, das die Autorin kurz vor ihrem Tod im Herbst 2017 fertig schrieb; sie beeilte sich, als wisse sie, dass das Ende, das sie schon zwanzig Jahre erwartet hatte, jetzt wirklich nicht mehr fern ist. (Überhaupt sind „Rat & Streben“ ja Anagramme von „Art & Sterben“ – und das ist, was in diesem Roman durchdekliniert wird.)
Der Reihe nach. Aber da fängt es schon an. Denn „wo es keine Vergangenheit mehr gibt, gibt es auch keine Reihenfolge“, sagt eine der Splatterfiguren im Buch zu Bovenschens Lieblingsprotagonistin Alma Lupinski. Das mit der „Lieblingsprotagonistin“ ist jetzt nur eine Vermutung. Bovenschens Alter Ego aber ist diese Figur auf jeden Fall: Alma ist eine alte Dame, Literaturwissenschaftlerin von Beruf, die das Haus nicht mehr verlässt, ihre Lebensleidenschaft in derbe Sprache verpackt und dank TV ziemlich genau weiß, dass die Welt den Hexensabbat feiert.
Ein wenig ist diese Alma Lupinski also wie Silvia Bovenschen, die ebenfalls Literaturwissenschaftlerin war und aufgrund ihrer MS und allerhand anderer medizinischer Diagnosen die meiste Zeit ihrer letzten Lebensjahre auf ihrem mit edlen Plaids abgedeckten Bett verbrachte und niemals um den heißen Brei herumredete. Über ihr hingen wechselnd große Gemälde, die ihre Lebensgefährtin Sarah Schumann gemalt hat. Auf den vielen Fotos, die profilierte Fotografen und Fotografinnen für profilierte Zeitungen und Magazine von Bovenschen auf ihrer Liegestatt gemacht haben, sind diese Bilder, die über ihr hängen, wie eine über die Zeit verteilte Ausstellung zu sehen. (Auch die Malerin blitzt in dem Roman ganz am Ende noch durch.) Inszenierung? Warum nicht.
Auf der Liegestatt entstand dieser Roman mit dem absonderlichen Titel, in dem die Autorin alles vermischt, was ihr beim Durchstreifen von Literatur, Gesellschaft, Geschichte, dem Fernsehen, dem Internet, Worten und Welt bedeutsam vorkam. (Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang ein nichtssagendes Wort.) Sie habe, sagte Bovenschen kurz vor ihrem Tod, ihren Verlag vor diesem Buch gewarnt. Es sollte ein unartiges Buch werden, eins ohne Sinn und Verstand. (Das glaubt ihr kein Mensch.)
Um etwas Ordnung ins Chaos zu bringen, hier mal das Setting: Alma Lupinski lebt mit ihrer Nichte und dem Bruder ihres verschollenen Gatten in einer ramponierten Villa, jeder auf einer Etage. Begegnungen gibt es kaum. Die Nichte, Agnes Lupinski, weiß nicht so genau, wie ihr Leben weitergehen soll, und Alma Lupinski, die Tante, und deren Schwager wissen ziemlich genau, dass ihr Leben nicht mehr lange weitergeht. Dieses eingespielte Trio, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass die drei Protagonisten nur funktionalen Kontakt miteinander halten, gerät in einen Strudel, als Max, der Neffe von Agnes, zu Besuch kommt und auch ein Ex-Liebhaber von Alma, Mister Odino heißt er, aufkreuzt, der sich in der Mansarde einmietet, die eine Gerümpelkammer ist. Unter Gerümpelkammer ist nichts anderes als ein Geschichtennirwana zu verstehen, weil jedes Ding eine Geschichte hat, die aber losgelassen, also ins Nirwana geschickt wurde. (Entsprechend spielt das Gerümpel, das Max und Mister Odino finden, auch für die Geschichte kaum eine Rolle.)
Ja, und was ist nun die Geschichte im Roman? Sie geht in etwa so: Max, der sich unter Wölfe begeben will, (also unter Menschen?), bringt erst mal das eingefahrene Gefüge der drei in ihrer ramponierten Villa durcheinander, und dann schafft er es auch noch, dass Alma Lupinski mit Mister Odino und ihm einen Ausflug macht. Wohin fahren sie? Nach Mispelheim. Was ist das? Kann man googeln, wie man überhaupt alles googeln kann. (Ob man was findet, steht dahin.)
In Mispelheim jedenfalls findet so was wie eine Walpurgisnacht statt, allerdings sind die Figuren, die auftreten, keine Gespenster und Hexen, sondern Cyborgs & more oder wie die Autorin schreibt: „Hohepriester der allgültigen Hightech-Ordnung, ehrbare Fürsten des technoplastischen Transhumanismus, erhabene Meister der Biodiversität“. Dazu treten Schauspieler und ihre ausrangierten Doubles auf, denen gerade die Speicher gelöscht werden, deshalb können sie sich nur noch an halbe Sätze erinnern aus der Weltliteratur.
Eins der Zitate, das nicht nur aus dem Zusammenhang gerissen ist, sondern auch als Fragment schon Bedeutung hat über seine Zeit hinaus, stammt aus einem Sonett von Andreas Gryphius. „Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden. / Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein“. Vor 400 Jahren geschrieben. Und noch immer sind die Menschen so blöd.
Als Max, Mister Odino und Alma Lupinski nach ihrem Ausflug in die Neo-Walpurgisnacht wieder unversehrt zurückkommen in die Villa, fügt sich dann doch alles irgendwie. Max bekommt einen Hund anstatt eines Wolfes, die Nichte wäscht sich endlich die Haare, der Schwager stirbt. Und Odino und Alma? Die beschäftigen sich weiter mit der Zeit, der die Vergangenheit abhanden zu kommen droht.
Wie ein Jahrmarktsopus kommt der Roman daher. Wie ein Sommernachtstraum. Ein Ritt durch die Literatur und eine Abrechnung mit der Gegenwart. Aber es ist noch mehr. Es ist auch eine Parodie auf das Romanschreiben selbst. In einem Interview, das Bovenschen der taz kurz vor ihrem Tod gab, erklärt sie immer wieder, wie so ein Roman funktioniert: Dass man den Figuren, die erfunden werden, vertrauen muss. Dass es ein Riesenproblem ist, Romanfiguren erst zu erschaffen und dann wieder loszuwerden. Dass alles und nichts von der Autorin selbst im Roman steht. Und dass man sich von der Wirklichkeit distanzieren und die Fiktion sich zu eigen machen muss, („anverwandeln“ sagte sie und bestand auf diesem Wort, die Fiktion anverwandeln). In „Lug & Trug & Rat & Streben“ hält sie es mit diesen Romanschreib- und -aufbauproblemen gerade, wie es ihr gefällt. Sie stellt Spannung her, indem sie ein Mysterium andeutet, es aber am Ende nicht auflöst. Linearität ist unwichtig, Kohärenz ebenso – und wenn es sie doch gibt, ist das ein Kniefall der Schriftstellerin vor den Lesenden.
Auch kümmert sich die Autorin nicht wirklich darum, wie sie ihre Figuren am Ende wieder loswird. Und die Autorin selbst steckt auch im Roman – und eben auch nicht. Wer das Glück hatte, einmal mit Bovenschen sprechen zu dürfen, hört ihren mokanten Ton heraus, wenn Alma Lupinski loslegt; wer Bovenschen aus ihrem Leben erzählen hörte, kennt einige der erwähnten Episoden. Etwa die von den kaputten Häusern nach dem Krieg, in deren Trümmern sie spielte und denen nur eine Wand fehlte, so dass die Wohnungen aussahen wie Bühnen, auf denen niemand mehr etwas darstellt. So eine Beschreibung taucht minutiös als Erinnerung der Lupinski im Roman auf – und war doch ihre eigene.
Vor allem aber bestand Bovenschen in dem Interview darauf, dass ein Roman etwas mit der Zeit zu tun haben muss, in der wir leben – und dass dies, wenn die Zeiten schwierig sind, so wie jetzt, halt nicht gewünscht ist.