Stadt. Land. Fluss.
Die Busse in London sind so rot wie immer, doch auf dem Land scheint es, als seien die Farben aus der Welt gewaschen. Eine Reise über eine Insel, die nach dem Brexit-Referendum nur noch ein Thema kennt
Stadt
How are you? Frag irgendwen in London. Frag nachts um elf vor dem Bahnhof in Kin g ’s Cross, während drei schwarz gekleidete Jungs Musik machen und Leute stehen bleiben für einen Moment.
Frag nachmittags auf Gleis 2 am Bahnhof London Bridge, wo einige fröstelnd auf die Verbindung nach Hayes im Südosten der Stadt warten. Um 14.34 Uhr sollte der Zug kommen, sie verharren geduldig. Der Wind fährt ihnen in diesem Sommer scharf ins Gesicht.
Frag in der Station Honor Oak Park im Londoner Südosten, die nur zwei Gleise hat. Jemand hat einen Kasten mit Fuchsien ans eine Ende der Brücke gestellt, die von einem zum anderen Gleis führt, sie blühen rot.
„Fine, thanks“, antworten alle. Alles in Ordnung. Wirklich alles in Ordnung? „Fine“ kann doch auch Strafe heißen.
Vor zwei Wochen haben die Briten in einem Referendum darüber abgestimmt, ob sie raus aus der EU wollen. Jetzt lässt sie die Entscheidung nicht mehr los. Ihr Ja ist auch Nein. Ihr Nein ein Ja. Seither sind viele im Land wie benommen. What happened? Warum? Alle reden darüber. Es gibt Meinungen; viele; manche Meinung wird für eine Tatsache gehalten. Und jetzt?
„Die Entscheidung lässt sich nicht im Alltag auflösen“, sagt Sabrina Huck. Sie ist noch nicht in London, sitzt noch im Flugzeug von Berlin, auf ihrem Schoß ein Buch, „The Blair Years“ (Die Jahre mit Blair), dem Ministerpräsidenten, als die Labour-Partei an der Macht war. Das Buch ist dick. Ob sie es wegen des Brexits liest? Ja, nein, doch, „alles hängt mit allem zusammen“.
Sie ist 25, eine Deutsche aus Freiburg mit deutschem Pass. Und sie ist die nationale Vertreterin der Young Labour der Londoner Region. Das geht. Es geht in der EU. In Berlin war sie Gast einer Talkshow bei Phoenix. „Ständig gibt es neue Entwicklungen, die mit dem Referendum zu tun haben“, sagt sie und zählt auf: der Rücktritt des Premierministers David Cameron. Der Rückzug des Brexit-Frontmanns Boris Johnson, der Cameron beerben wollte.
Dann all diese Versprechen, die sich als Lügen entpuppten, als Manipulation, Falschinformation, Ignoranz. Alles sei Verrat. Und die Labour-Partei ist ebenfalls in eine Führungskrise gestürzt, das passt ihr am wenigsten. „Es gibt so viele offene Fragen.“ Wer stellt den Antrag auf Austritt? Wer stellt ihn wann? Kann er überhaupt gestellt werden? Welche Folgen hat er? Und warum haben viele junge Leute nicht gewählt?
Wenn es eine europäische Identität gibt, Sabrina Huck hat sie. Sie hat sich in Finnland in einen Engländer verliebt, folgte ihm nach London, spricht mit Londoner Akzent. Dann trennte sie sich, blieb trotzdem in England, jobbt bei einer Organisation, die europaweit die Parlamentsdebatten auswertet, die Ergebnisse verkauft, etwa an Unternehmen, die dann wissen, bei welchem Politiker sie mit welchen Themen am besten Lobbyarbeit machen. Sie muss so einen Job machen, um Geld zu verdienen, weil London ja teuer ist, sehr teuer. Dazu Repräsentantin der Jugendorganisation der Labour-Partei. Ein Lebenslauf, gefördert durch die EU.
Kaum angekommen am Flughafen, wird sie von der Menschenmenge aufgesogen.
Die Sonne steckt hinter den Wolken, grau, auf verschwommene Art. Das Licht macht die Konturen der Stadt weich, zieht die Skyline in die Ferne und lässt die immer gleichen endlos langen Straßen mit den Reihenhäusern aus Backstein, an denen die überirdischen Züge vorbeifahren, aussehen wie Kulissen aus einem alten Orson-Welles-Film. Dazwischen eng verbaute Höfe, Müllwagen und Müllkippen, Stadtbrachen, auf denen sich die Schmetterlingsflieder wild verbreiten, Parks, Schulsportplätze, Kinder in Schulsportuniformen spielen Cricket, daneben kastige Backsteinfabriken, eingerüstet manche. Gerüst, Englisch scaffold, was auch Schafott heißt. Über allem, grau, die Kräne.
Und jeden Morgen diese Magie: Als saugten die Züge die Menschen auf, zögen sie aus den Vorstädten über die Gleise, hinein in die Tunnel in immer rasanterer Geschwindigkeit, immer mehr, immer enger, näher zusammen, verdichtet in Wirbeln, amorph irgendwie, wie Wasser im Fluss. In den öffentlichen Verkehrsmitteln löst sich Individualität auf. Deshalb schminken sich die Frauen, ziehen die Augenbrauen nach, legen Lidschatten auf, lackieren die Nägel, und Männer nutzen das Smartphone als Spiegel. Einer drückt Pickel aus. Jemand isst Suppe, dann Joghurt. Viele beantworten E-Mails. Die Zugwaggons sind Büro, Badezimmer, Küche und Parlour. Facebook-Nachrichten werden verschickt. Dass die UNO Großbritannien vorwirft, mit der Austeritätspolitik hätte das Land seine internationalen Menschenrechtsverpflichtungen verletzt, ist so eine Nachricht, die seit dem Wochenende zirkuliert.
Wie auf das Referendum reagieren? Die Leute entwickeln Ideen: Petitionen, Demonstrationen, und sie klagen, klagen. Marta Nunez hat die Nachricht von der UNO weitergeleitet von jemandem, der jemanden kennt, der sie ihr weiterleitete. In bestickten bunten Kleidern wie eine Frida Kahlo sitzt sie auf dem lila Sofa im Wohnzimmer ihres kleinen, zweistöckigen Reihenhauses unweit Catford Bridge, das so aussieht wie die kleinen zweistöckigen Reihenhäuser, die rechts und links an ihm hängen. „Oh my God“, sagt sie, es wirkt dramatisch, wie auch ihre Schönheit, die grellen Farben ihrer Kleidung, das lila Sofa dramatisch wirken.
Sie erzählt von damals, als sie ihren Mann, einen Argentinier, aus dem Haus warf, er hatte Liebhaber, sie hatte Liebhaber, ihre Hände wirbeln durch die Luft. Vergiss es. „Und nur wenige Paare haben die Chance, sich durch so eine Krise zu kämpfen. Jetzt sind wir wieder zusammen, weil wir es wollen.“ Die Scheidungsmetapher taucht im Zusammenhang mit dem Referendum ständig auf.
Nunez jobbt im Bermondsey Fayre, einem Geschäft unweit der London Bridge, verkauft schöne Kleider, schöne Dinge. Seit dem Referendum wollen die Kundinnen reden, nur reden. „Oh, es geht mir so schlecht, ich muss etwas kaufen, was soll ich nur kaufen?“ Nunez greift sich an die Stirn, als schwindelte ihr, um den Grad an Auflösung zu zeigen, den eine Kundin verspürte. „Buy a candle“, schlug sie vor, – kauf eine Kerze, „zünde sie an, bete.“
Nunez stammt aus Argentinien, sie sagt, sie könne ihre Träume beeinflussen. Nun hat sie schon seit zwanzig Jahren einen britischen Pass. Sie arbeitete im Innenministerium, brachte Diplomaten Spanisch bei, stimmte für „Remain“ und damit gegen den Ausstieg aus der Europäischen Union, ihre Tochter, Psychologin, ebenfalls.
Ihr Sohn aber, der nicht an der Uni war, stimmte für „Leave“, raus aus der EU. Er, Kind von einem früheren Mann, einem Australier, hat sich auf die Seite der Briten geschlagen. Der Riss geht durch die Familie, und die EU ist schuld. Eine Identitätssache sei es, sagt Nunez. Ihr Sohn identifiziere sich mit der Arbeiterklasse, mit den Verlierern des Wandels. Jetzt sei er erschrocken, dass seine Entscheidung etwas bewirkt. Dass England ohne EU möglicherweise auch die Falklandinseln verlieren wird, findet sie interessant, Argentinien hat just am Tag der Brexit-Abstimmung alte Gebietsansprüche bekräftigt. An die Falklandinseln hat bisher noch kaum jemand gedacht.
Und weiter treibt die Stadt vorwärts, durch immer andere Gegenden, die zusammengehalten werden von schrillen Ambulanzsirenen, roten Doppeldecker-Bussen, hupenden Autos. Menschen ziehen vorbei, mit allen Hautfarben, mit allen Haarfarben, Sprachen, Akzenten, mit Kindern, ohne, lässig gekleidet, sehr lässig, Turnhose geht auch. Wie sie denken? Bei einigen steht es auf ihren T-Shirts: „Fuck the nightmare“, „Nightingale“ – Scheiß Albtraum, Nachtigall. Und wenn sie über die Straße wollen, schreit die Aufschrift auf dem Teer ihnen entgegen: Look left – Look right; als wäre die Stadt auch ein Hemd.
Clapham High Street in Südlondon ist so eine Straße, auf der die Leute in ihrer ganzen zusammengewürfelten Vielfalt flanieren, Busse fahren vorbei, die Feuerwehr verschafft sich mit ohrenbetäubendem Lärm Platz. Zweistöckige Häuser, im Erdgeschoss Läden mit grellen Firmenschildern über der Tür: – Odds & Bins, Skier II, I am broke – ich bin pleite heißt das.
Die alten Häuser wechseln mit modernen aus Glas und Stahl ab. Restaurants, Supermärkte, Kentucky Fried Chicken. Leon Brown sitzt vor Valeries Patisserie. Er ist Lehrer. Und immer noch unter Brexit-Schock. Der breitet sich wie eine Welle in seinen Gedanken aus und nimmt alle möglichen Themen dabei mit.
Was sich die Konservativen in der Bildungspolitik erlaubten. Sie haben, sagt er, den Gleichheitsgedanken an den Schulen ausgehebelt. Und dann wechselt er wieder zum Referendum vor zehn Tagen. „Auf welcher rechtlichen Grundlage will man mir die europäische Bürgerschaft nun entziehen?“, fragt er. Die britische Situation sei kompliziert. Es gibt keine Verfassung, aber es gibt einzelne Acts, Gesetzeswerke, auf die man sich berufen könne. Im Moment regele ein solcher Act die Mitgliedschaft in der EU. Den müsse man parlamentarisch doch erst wieder annullieren.
Browns Hoffnung: dass alles lange dauert. So lange, bis es in den Verhandlungskanälen vergessen wird. Dagegen zu sein, koste plötzlich so viel Energie. Dabei brauche er sie für anderes, er liebe doch seinen Job. Dort will er sich verausgaben. Die Freude der Kinder am Lernen aber werde in diesem heruntergesparten System kaputtgemacht.
Brown arbeitet in einer schwarzen Community. In seiner Klasse hätten die meisten Kinder Vorfahren aus Afrika, Indien oder der Karibik, wie er. Nur wenige Kinder seien weiß, wobei, was heiße schon „weiß“, er könne jetzt nicht die Herkunft jedes einzelnen Kindes aufzählen, wichtiger sei: Viele sind mehrsprachig. „Sie denken in zwei Welten, sie sehen die Welt aus mehr als einer Perspektive, eine Riesenchance, und kein Geld wird in die Bildung gesteckt, um das zu entwickeln.“ Im Gegenteil.
Später fährt Brown zum March for Europe – der Demonstration für Europa im Londoner Zentrum. Vom Green Park zum Parlament läuft er. Eine Frau steht an der U-Bahn beim Park, ein Schild in der Hand: „I ♥ EU“, EU gesprochen wie „you“. Sie wird von vielen nach dem Weg gefragt. „Dort, dort.“ Plötzlich ruft ihr jemand zu, der sie in der Menge entdeckte: „Rachel, how are you?“ „Pissed“, antwortet die Frau mit dem Plakat. Ist das jetzt eine ehrliche Antwort auf diese einfache Frage?
Auf anderen Plakaten wird auch mit Worten gespielt: „EUnite“, „Boris for Brexecution“, „Breverse“, „We are all Remainians“, „I want to be inside EU“. „Ich kenne nur eine Person, die gegen die EU gestimmt hat, und das war meine Schwester“, sagt ein Mann. Sie sagt, sie wolle sich nicht von Bürokraten sagen lassen, was zu tun sei. „Wer will das schon?“
Land
Aber London ist nur die halbe Geschichte. „Fahr in den Norden“, sagen Freunde. „Fahr ins andere England.“ In die ausgebluteten Regionen, in denen es keine Jobs gibt, aus denen weggeht, wer immer kann. Regionen, in die nicht investiert wurde. Oder wenn doch, dann – es ist kompliziert – vor allem mit Geld aus europäischen Entwicklungsfonds. „Fahr dahin, wo die Leute den Brexit wollten.“ Lowestoft sei so ein Ort. Im Osten, an der Küste.
„Die Wahrheit über diese Stadt?“, fragt der junge Mann auf dem Moped. Er steht an der Klappbrücke über den Wasserlauf zwischen dem inneren und äußeren Hafen, der den südlichen Teil von Lowestoft mit dem nördlichen verbindet. Die Brücke wurde den Holländern gebraucht abgekauft. „Die Wahrheit über diese Stadt kannst du haben: This town is shit.“
Er nickt dabei, und sein Kumpel neben ihm nickt auch. „Deshalb rauchen wir Gras. Alle rauchen Gras. In jedem Haus in dieser Stadt wächst Gras.“ Er lässt den Kumpel am Joint ziehen. „Lowestoft – kein Mensch kennt das Kaff. Noch nie gehört, sagen die Leute. Und dann erkläre ich: nördlich von Ipswich, südlich von Norwich.“ 28 Jahre ist er, Schweißer, aber arbeitslos. 143 Pfund kriegt er alle zwei Wochen. Und weg könne er nicht, seine Eltern hätten ihn hierher geschleppt als Kind. „Du weißt: Seaside, Strand. ‚Oh how lovely‘.“ Dann wollte er doch weg, aber, peng!, er wurde Vater. Jetzt hängt er fest.
Lowestoft ist der östlichste Ort an der englischen Küste. 70.000 Einwohner und Einwohnerinnen – da zählen die Eingemeindungen schon mit. Noch mehr Superlative hängen der Stadt an: Sie soll einer der am frühesten besiedelten Orte in England gewesen sein, Feuersteine wurden hier gefunden. Und das jüngste Alleinstellungsmerkmal: Der Lowestofter Stadtteil Kirkley schnitt in einer Erhebung von 2010 als Englands ärmster Bezirk ab.
Die Stadt ist abgehängt, die Fischindustrie kaputt, die Schiffsbauindustrie kaputt, tausend Schiffe konnten im Hafen anlegen, jetzt dümpeln nur wenige dort vor sich hin, die alten Lagerhallen stehen leer, ein einziges Windkraftrad, in das oft der Blitz einschlägt, dreht seine Runden über allem, Kinder tauften es „Gulliver“. Das Gekreische der Möwen hat sich bis heute gehalten. Es legt sich wie ein an- und abschwellender, warnender Gesang über die Stadt.
Lowestoft gehört zu den Regionen im Norden Englands, die mit überwältigender Mehrheit für den Ausstieg aus der EU stimmten. Die Leute glauben, die Europäische Union sei an der Misere schuld. Auch die zwei Gras rauchenden Kerle. „Klar, leave“, sagt einer. „Wenn ich 20 Pfund in der Tasche habe, und es kommt jemand, der hat nichts. Dann soll ich ihm noch meine 20 Pfund geben.“ Ob das denn schon vorgekommen sei? „Nein, aber: Know what I mean. Lieber halten wir Briten zusammen.“
Die Stadt wirkt wie ausgelöscht mit ihren niedrigen Reihenhäusern, die verbraucht aussehen – als hätten Sonne und Wind, Salz und Sand die Farben aus allem gesogen. Von großen Supermärkten abgesehen schließen die Geschäfte nachmittags um fünf. Selbst Starbucks ist nur eine Stunde länger offen. „Warum länger auf lassen, hat ja doch keiner Geld“, sagt eine Frau, die ihr Kind hinter sich her zieht. „You are a big boy, you can walk.“
Weil Geld bei vielen knapp ist, gibt es von allem das Billigste. An staubigen Schaufenstern kleben rote Plakate mit der Aufschrift: „Sale, Sale, Sale“. Die Sachen in den Auslagen wirken vergessen. Überall sind Wohlfahrtsläden – Secondhandläden, die einem guten Zweck gewidmet sind. Gegen Herzkrankheiten. Für arme Kinder. Für psychisch Kranke. Für körperlich Eingeschränkte. Für Arbeitslose. Für Taubblinde. Für Kinder, die Krebs haben. Jede Charity hat ihren Laden.
Den Menschen, meist dicken Frauen, die hinter der Kasse stehen oder Tee und Kaffee ausschenken, geht es nicht gut, aber sie freuen sich, weil sie gebraucht werden. Second Hand und Vintage, das ist die Hauptgeschäftssparte in Lowestoft. Neben dem Gateway to hope, dem Tor zur Hoffnung, einem Laden einer christlichen Sekte in der London Road South – sitzen Betrunkene.
„Schreiben Sie nicht nur Schlechtes über uns“, sagt ein Historiker aus Lowestoft, ein kleiner Mann, Kettenraucher, der unter keinen Umständen mit Namen genannt werden möchte, schließlich arbeitet er für die Verwaltung. Dass die Stadt arm ist, das sieht er wohl; arm und weiß, die Migrantenquote liegt unter 2 Prozent. Und dass Arbeitslosigkeit, Alkohol, Drogen, Teenagerschwangerschaften große Probleme sind, sieht er auch. „Die Mädchen werden schwanger, aus Mangel an anderen Perspektiven“, sagt er. Offiziell leben knapp 20 Prozent der Bevölkerung von staatlicher Hilfe.
Der Historiker ist in Lowestoft geboren, „und hier werde ich wohl auch begraben“. Bald wird er 70, und er weiß noch, wie es war, als die Stadt pulsierte, als Geld floss, als es Jobs gab, die Werft, die Fischerei. Richard Bransons Boot, die „Virgin Atlantic Challenger II“, mit der er 1986 seinen Weltrekord für die schnellste Atlantiküberquerung holte, sei hier gebaut worden.
Aber gleichzeitig denkt er, Alte wie er hinderten die Stadt daran, sich zu erneuern, weil sie sie immer noch wehmütig so haben wollen, wie sie einst war – reich, selbstbewusst, lebendig. „Wir haben unseren Bürgerstolz verloren“, sagt er immer wieder; Bürgerstolz – civic pride. „Auch weil eine Gebietsreform der Stadt ihren Status nahm und nun Leute Entscheidungen treffen, die gar nicht hier leben.“ Als Brite, sagt er, trage er den Wunsch im Herzen, dass das Land die EU nicht bräuchte. Sein Verstand indes sage ihm, dass es anders ist.
„Wir sind arm, aber wir haben das Meer“, sagt David Cattermole. Er sitzt in verwaschenem T-Shirt und speckiger Hose hinter seinen Computern – Tag und Nacht. Seine Wohnung ist ein Ramschladen. Möbel, Wassertonnen, Sandsäcke, DVDs, Regale, alles stapelt sich. Auf AirBnB vermietet er ein Zimmer, es ist eine mit Schränken abgetrennte Abstellkammer. Darin steht ein Bett, daneben steht ein Sofa. Und auf dem Sofa liegt, umgedreht, ein zweites Sofa. Und auf dem zweiten Sofa steht ein Sessel wie ein Thron. Irgendwann wolle er ein Café aufmachen. Die Möbel habe er schon. Wer hier durchreist, macht Armutstourismus.
Cattermole ist ein netter Kerl, raucht nicht, trinkt nicht, lacht großzügig trotz der Zahnlücke. Er habe sich schwer mit der Entscheidung beim Referendum getan. Er sei fifty-fifty gewesen. Aber dann hat er doch für Leave gestimmt. Weil das Geld statt nach Europa ins Gesundheitswesen gesteckt werden soll.
Cattermole ist nicht der einzige mit einer Zahnlücke. „Wir sehen das nicht, wenn jemandem die Zähne fehlen. Wir sind Gleiche unter Gleichen“, sagt er. Dem Mechaniker, der mit seiner Tochter am Strand eine Sandburg baut, fehlen im Oberkiefer bis auf einen Zahn alle. Er hat einen Job, repariert alle möglichen Autos. Um seine Zukunft fürchtet er nicht. Wenn die Leute ärmer werden, und sie seien zuletzt immer ärmer geworden, gibt es mehr alte Autos zu flicken. Das mit dem Brexit – „man hätte mal lieber alles gelassen, wie es ist“, sagt er.
Und diesem Typen mit dem speckigen Hut, der sich B. J. nennt und in seinem Ramschladen hockt, fehlt vom Gebiss auch die Hälfte. Auf seinem T-Shirt ist ein Tiger abgebildet.
Welches seiner sieben Katzenleben er am meisten gemocht hat? „Die Zeit bei der Armee“, antwortet er. 35 Jahre war er dabei. Im Sondereinsatz in allen möglichen Ländern, Südafrika, Libyen, Afghanistan, Nordirland. Und? „Fragen Sie“, sagt er, er ahnt, was im Raum steht. Und, haben Sie Leute erschossen? „Ja“, sagt er „48.“ Fünfzig, meint er, wäre eine rundere Zahl gewesen. Auf den Hund sei er gekommen, als seine Frau starb. Und klar, für ihn nur „Leave“. Für ihn seien alle Flüchtlinge Terroristen.
Sicher, alles sind Zufallsbegegnungen: Da ist die junge Familie in der Windsor Gallery auf der London Road South, einem Farbenladen. Sie sind hierher gezogen, weil die Hauspreise billig sind, sie unterrichten ihre Kinder zu Hause, das darf man in England, und sie organisieren Malkurse. „Lowestoft“, sagt die Frau hinterm Tresen, „ist eine Stadt im Verblassen, eine, aus der die Farbe verschwindet. Ich sehne mich so nach Schönheit – I long for beauty.“ Woran sie sich festhält: dass die Landschaft außerhalb der Stadt und die Küste umwerfend sind.
Oder da, die Frauen im Wolleladen an der Highstreet, im ältesten Teil Lowestofts. Jeden Dienstagnachmittag treffen sie sich zum Stricken. Angefangene Pullover in Pastellfarben in ihren Händen. Eine Strickerin findet, es wäre besser, wenn das Referendum anders ausgegangen wäre. Sie hat schon mal im Ausland gelebt. Die anderen Frauen sehen das nicht so. „Ich will mir doch nicht, sagen wir, von einem Land wie Belgien, Bel-giii-um, sagen lassen, was zu tun ist. Wir sind Großbritannien.“
Und da ist die Dozentin des Lowestoft-College für Design, die eine kleine Ausstellung mit Arbeiten von Studierenden in der Stadtbibliothek zeigt und noch ganz benommen ist von dem Referendum-Ergebnis. Sie wollte in den Ferien nach Frankreich. Jetzt wird es ihr zu teuer.
Auch die zwei jungen Typen, arbeitslos, der eine ein ruhiger, feiner, der andere hibbelig, bis zum Hals tätowiert und dünn – Zufall, sie getroffen zu haben. Lowestoft habe den riesigen, langen Strand, das sei toll, aber sonst gebe es nichts. 23 ist der Hibbelige, war auf Drogen, war im Knast, jetzt habe er sich im Griff. Der andere ist 30 und will nach Ipswich ziehen. Dort hofft er auf Arbeit. Gewählt haben sie nicht. „Mir ist nicht aufgegangen, was diese Abstimmung sollte“, sagt der Jüngere.
Fluss
Zurück in London. „Wir machen eine Bootsfahrt auf der Themse“, sagt Lisa Harrison, „kommst du mit?“ Von Westminster nach Greenwich und zur Thames Barrier, die London vor Hochwasser schützt. Wie stählerne Walrosse liegen die Barrieren im Fluss – ein Deich aus Metall.
Harrison hat einen englischen Vater, der ein Theater in Nordengland leitete, und eine deutsche Mutter. Sie erzählt, dass ihre Mutter nach dem Referendum nicht mehr aus dem Haus wollte; viele der Nachbarn hätten die rechten Nationalisten unterstützt. Plötzlich überall diese Nachrichten, dass Ausländer – Polen, Rumänen, Osteuropäer vor allem – angepöbelt, angegriffen wurden, die Mutter hatte Angst.
Aber auf einer Bootsfahrt wechseln die Themen schnell, hier, dort, gestern, heute. Morgen, das ist der Tag, an dem die Lebensgefährtin von Harrison zur Methodistenpfarrerin ordiniert wird. Schauspielerinnen waren beide, aber sie wollten nicht mehr das Spiel, sie wollten das Leben. Harrison arbeitet mit Flüchtlingen. „Exciting times.“
London ist riesig, London ist themsebezogen, die Londoner sind themsesüchtig. Charles Dickens trieb sich an den Ufern herum, weil er dort die Helden seiner Bücher fand. Heute würde er sie in Lowestoft finden. Die Londoner wiederum müssen sich von der Themse aus einen Überblick über das verschaffen, was ihre Stadt sein soll. Von dort kriegen sie die Unübersichtlichkeit in den Griff: Hallo Tower Bridge, hallo London Bridge, hallo Globe Theater und Tate Modern, hallo Glas, Stahl und Beton, hallo London Dome, Riesenrad, St Pau l ’s, Tower und Brexit. Immer wieder Brexit.
Viel zu laut erzählt der Skipper zu allem irgendwas. Wo Shakespeare sein Bier trank, und welchen letzten Weg die Verurteilten gingen, vorwiegend Adlige, die im Tower geköpft wurden. „Jo Cox wohnte auf einem Hausboot nicht weit von der Tower Bridge“, sagt Harrison, als das Schiff unter der Brücke hindurch fährt. Sie deutet ans nördliche Ufer, sie glaubt, dass es dort war. Jo Cox, die Abgeordnete, die kurz vor dem Referendum erstochen wurde. „Für nichts.“ Der Mörder schrie: „Britain first“, den Slogan der Rechten.
Und dann noch die Anekdote vom Tor der Verräter, dem Traitor ’s Gate. Die Stimme des Bootsführers überschlägt sich fast. Nicht nur, dass Verräter dort mit dem Boot ins Gefängnis gefahren wurden, auch die Köpfe Geköpfter wurden ausgestellt, drei Ebben und Fluten lang. „Verräter, komisch“, sagt Harrison, „das Wort haben wir seit dem Referendum oft gehört. Dabei war es doch schon fast aus der Mode.“
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Waltraud Schwab ist Redakteurin der taz.am wochenende. Eine britische Freundin sagte ihr, sie sei so schön awkward. Dabei meinte sie sicher awesome
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