Meine ungehaltene Rede

Für einen Wettbewerb anlässlich des 100. Geburtstages von Christiane Brückner am 10. Dezember, sollten Frauen ungehaltene Reden halten. Der 10 Dezember ist auch der Tag der Menschenrechte. Hier ist meine Rede:

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Liebe Freundinnen und Freunde.

Liebe Menschen, die ihr mir zuhört, auch wenn ich mich in Rage reden sollte. Weil ich zu viel Ungerechtigkeit auf der Welt sehe. Zu viel Ignoranz, zu viel Dummheit, zu viel Gier, zu viel politische Willfährigkeit.

Es ist nämlich so: Eine Politik, die Menschen gegen den Markt ausspielt, eine Politik, die zulässt, dass der Planet zerstört wird, eine Politik, die auf Waffenexporte setzt, eine Politik, die Frauen gängelt, eine Politik, für die Mitmenschlichkeit eine Hohlformel ist, wenn es um Flucht und Migration geht, macht mich wütend.

Aber bevor ich mehr darauf eingehe, will ich ein paar Fragen stellen. Und die könnten sogar abwegig klingen.

Es interessiert mich nämlich, was Sie sich unter dem Wort „Lichtkleid“ vorstellen? Denken Sie nicht lange nach. Was kommt Ihnen zu Lichtkleid in den Sinn? – Ist es ein Lampenschirm? Oder ein von innen beleuchtetes Kleid? Ist es ein Regenbogen? Oder eine vom Licht atmosphärisch beleuchtete Szene? Das sind Antworten, die mir gegeben wurden. Die ersten zwei von Männern, die letzten zwei von Frauen. Fragen Sie selbst mehrere Menschen, unterschiedlichen Geschlechts. Erkennen Sie einen Unterschied zwischen dem, was Frauen und Männern antworten? Nein?

Dann versuchen Sie es mit dem Wort „Traumraum“. Denken Sie wieder nicht lange nach. Ist es eine Hotelsuite am Meer? Das Bernsteinzimmer? Das Paradies? Oder doch dieses Unbegrenzte, wie es in Träumen oft ist? Wieder sind das Antworten, die ich bekam. Vielleicht fällt Ihnen jetzt ein Unterschied auf.

Wie dem auch sei: Bei den Antworten, die mir gegeben wurden, sind Männer eher vom Konkreten ausgegangen: bei Lichtkleid vom Kleid, bei Traumraum vom Raum. Spontan halten sie sich an der Begrenzung fest, dem Stoff, der Wand. Ein Hotelsuite am Meer. Ein Lampenschirm. Das ist überschaubar, kontrollierbar, gestaltbar.

Die Antworten von Frauen orientierten sich dagegen eher am Unkonkreten, am Unbewussten: dem Licht, dem Traum. Einem Regenbogen etwa.

Ich finde das verrückt, so ein einfaches Experiment und so ein Unterschied. —

Echt jetzt, können Sie sagen, worauf läuft das raus? Wird das feministischer Unsinn? Das ist nämlich meine Erfahrung: Wer Unterschiede zwischen Männern und Frauen benennen will, außer dem, dass bei den einen die Geschlechtsteile außen hängen, während sie bei den anderen versteckt sind, wird oft als Unsinn plappernde Feministin abgetan.

Das sollte mich allerdings nicht stören. Denn auch wer elementare Frauenthemen anspricht, wird oft abgekanzelt. Dass Frauen ein Recht auf Unversehrtheit vor sexualisierter Gewalt zusteht. Dass sie sich nicht von Kirche und Staat sagen lassen wollen, wann sie Kinder bekommen. Dass sie gleichberechtigte Teilhabe, gleiche Löhne etc. wollen.

Aber ich schweife ab, es geht um die Fantasieworte, nach denen ich Sie fragte, und Sie können weiter einwenden, die Antworten waren Zufall. Lichtkleid, Traumraum – was soll das? Wo ist die Forschung?

Sie haben recht, es sind nur spontane Reaktionen, die dennoch etwas abbilden. Das nämlich, dass Wahrnehmung unterschiedlich ist, und dass Frauen bei dem, was sich nicht gleich erschließt, eher das Ganze versuchen im Blick zu behalten, während Männer vom Konkreten ausgehen.

Ein Ausbilder bei Siemens, der sich darum kümmert, dass mehr Mädchen Männerberufe ergreifen, sagte es mir mal so: Wenn er die Auszubildenden an einen Tisch führt, auf dem ein Haufen Bauteile liegen, dann gehen die Mädchen erst drum herum und betrachten es von allen Seiten. Die Jungs dagegen greifen sich ein paar Bausteine raus und fangen an, damit rumzuprobieren. — Sicher, das ist auch nur eine Beobachtung. Aber wenn was dran ist, könnte es erklären, warum die Politik, in der zu viele Männer das Sagen haben, die großen Zusammenhänge nicht ins Handeln einbezieht.

Wer trotzdem weiter darauf beharrt, dass die Wortabfragerei Quatsch ist, kann auch mit Martin Luther King kommen. Denn schließlich ist der es gewesen, der in seiner berühmten Rede 1963 beim Marsch auf Washington immer wieder sagte: „I have a dream.“ Also können auch Männer den Traum sehen in einem Meer von Problemen.

Seine letzte Traumsequenz schließt so:

Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht und jeder Hügel und Berg erniedrigt wird. Die rauhen Orte werden geglättet und die unebenen begradigt werden. Und die Herrlichkeit des Herrn wird offenbar werden, und alles Fleisch wird es sehen.

 Das ist unsere Hoffnung.“ Seine Worte gehen bis heute unter die Haut.

King zitiert da eigentlich die Bibel, bezog sich aber auf die Rassentrennung in den USA. Seine Träume zielten auf die Abschaffung aller Ungleichheit zwischen den Menschen.

Klar darf man das nicht konkretistisch verstehen und King unterstellen, dass es Gleichheit erst dann gibt, wenn die Berge geschliffen und die Täler aufgefüllt sind, obwohl, und das ist das Verrückte, das bis heute von der Braunkohletagebauwirtschaft getan und von Politikern wie Armin Laschet, der Bundeskanzler werden will, gut geheißen wird. Steht ja in der Bibel, kann er argumentieren.

Merken Sie was? Der Braunkohletagebau ist das Konkrete; das Wasser, das im Sommer 2021 über Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, wo Laschet Ministerpräsident ist, hereingebrochen ist, ist der Alptraum. Das Ergebnis ist gleich: Die Landschaft ist geschleift. Und wenn es darum geht, wer von der Katastrophe den Schaden hat, dann trifft es Männer und Frauen endlich gleich. Beide stehen mit Nichts da. Das ist nicht, was Martin Luther King wollte.

Sie wiederum, sofern sie mich partout missverstehen wollen, können zu mir sagen: Wenn Ihre Argumentation, Frau Schwab, stimmt, dann ist die Flut die feministische Rache.

Dabei wäre es besser, Sie würden an der Flut mal testen, wie sehr Politiker und Politikerinnen die Zusammenhänge im Blick haben, und sich genau anhören, was sie dazu sagen: Laschet etwa zieht aus der Flutkatastrophe den Schluss: „Entschuldigung … , weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik.“ Scholz spricht von Soforthilfe und einem nationalen Kraftakt, Söder sieht „unglaublichen Weckruf der Natur“,

Dabei waren CDU und SPD noch zwei Wochen vor der Flutkatastrophe geschlossen dagegen, dass die Bundesregierung den Klimanotstand ausruft. Der würde die Regierung zwingen, Entscheidungen so zu treffen, dass sie die Erderwärmung nicht fördern. Nur soviel dazu. — Wir brauchen aber Politiker und Politikerinnen, die die Zusammenhänge im Blick haben, selbst wenn sie nicht fassbar sind.

Angela Merkel wiederum sagte, als sie die verwüsteten Ortschaften besuchte, „Wir sehen, mit welcher Gewalt die Natur agieren kann. Es wird sich leider einiges ändern.“ Endlich sieht sie es. Was aber meint sie mit dem Wort „leider“?

Es brauche, fährt sie fort, eine Politik, die „das Klima mehr in Betracht zieht, als wir das in den letzten Jahren gemacht haben.“ Selbstkritik immerhin. Und dann fügt sie noch hinzu: „So schnell wie möglich“.

Seit 30 Jahren warnen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen vor dem Klimakollaps. Damals war Merkel Umweltministerin. Seit 16 Jahren führt sie die Regierung, sie, eine Frau.

Sie hat, das muss man ihr zugute halten, gegen die Widerstände von vielen Männern zwei Mal die Zusammenhänge gesehen: 2011 nach Fukushima, als sie den Atomausstieg forcierte. Und 2015, als sie die Grenzen öffnete für Flüchtlinge. Das sind echte Leistungen. Die Erderwärmung hat in ihrer Politik dagegen wenig Niederschlag gefunden. „Niederschlag finden“ – das ist auch nicht schlecht.

Ich aber habe einen Traum: Eine intakte Welt. Weil ich diesen Traum habe, bin ich wütend. Manchmal auch verzweifelt. Wütend bin ich auf eine Gesellschaft, die es zulässt, dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Wütend bin ich auf eine Gesellschaft, die es zulässt, dass die Wissenschaft nur dann Gehör findet, wenn damit der Profit maximiert wird. Wütend bin ich auf eine Gesellschaft, die nichts dagegen tut, dass sie durch ihren Lebensstil den Planeten ruiniert.

Wütend bin ich, weil wir von Politikern und Politikerinnen regiert werden, die die Zusammenhänge nicht sehen. Oder nicht sehen wollen.

Das ist meine Litanei.

Dabei habe ich noch Glück. Die Politiker in unserem Land heißen nicht Bolsonaro, Trump, Putin, Erdogan, Orban, Modi, usw.

Wir haben nur diesen Planeten und er ist wunderschön. Es kann nicht sein, dass er durch Habgier zerstört wird und mit ihm der Mensch.

Von Hermann Hesse, dem Melancholiker unter den Schriftstellern, habe ich übrigens das Wort „Lichtkleid“. Er meint, wir tragen es, wenn wir nackt sind.

Vielen Dank