Sein Körper ist sein Haus
Ich habe Sam Schoenbaum in Berlin kennengelernt. Er ist ein moderner Nomade. Geboren 1947 in einem Flüchtlingscamp in Österreich. Manchmal dachte ich auch: „Displaced in third generation“. Er mochte das Wort „Displacement“ nicht. Es sei ein künstliches Wort, das die Briten nach dem Krieg eingeführt hätten für all jene Menschen, die Holcaust und Krieg überlebt hatten und nun auf der Suche nach (neuer) Heimat waren.
Sein Körper ist sein Haus
ZUFLUCHT Sam Schoenbaum sagt, er sei jiddisch, nicht jüdisch. Überall lebt er mal. Nur nach Deutschland wollte er nie
Freundschaft ist eine Währung, in der Sam Schoenbaum seine Miete bezahlt. Gerade wohnt er bei einem Mann in Berlin, Freund eines Freundes, im vierten Stock. Vor dem Fenster ist die Straße aufgerissen. Es fahren Bagger, die rumpeln schwer. Bis Ende August könnte Schoenbaum bleiben, auch länger. Der Krach verleidet ihm den Ort.
Seit ein Hagelsturm 1999 seine Wohnung in Sydney zertrümmerte, ist Schoenbaum obdachlos. „Die Hagelkörner so groß wie Apfelsinen“, er höhlt die Hand aus, um die Größe anzudeuten. Entschädigung bekam er keine. Seitdem wohnt er da, wo ihm jemand sagt, ein Zimmer sei frei. Wo das nächste ist? Vielleicht in Istanbul. Einziges Datum in seinem Kalender: am 14. Oktober der Flug nach Australien. Den Winter über will er nicht in Berlin bleiben, sagt er bei der ersten Begegnung. Bei der zweiten sagt er: „Vielleicht müsste ich den Winter in Berlin einmal erleben.“
Gerade ist Sommer und der 67 Jahre alte Künstler, kastig sieht er von hinten aus, fein geschnitzt von vorn, nennt das, was er gerade malt, „mein Bild“. Fertige Arbeiten nennt er „Bilder“. „Vielleicht weil Bilder, einmal fertig, in etwas übergehen, das ich nicht kontrolliere.“ Intuition leite ihn, intuitiv wisse er, wann ein Bild fertig ist. „It’s finished, when there’s still room left.“ Das Bild ist fertig, wenn da noch Platz ist.
Die Umrisse von zwei großen grünen Kreisen, nicht mit durchgehendem Strich gemalt, dominieren das Bild auf dem Tisch. Die Kreise berühren sich. „Closed circles open“. Ein kleiner Tisch mit dem Laptop steht noch im Zimmer, ein Stuhl, ein Regal mit Klamotten. Fast nichts. Schoenbaum ist ein Reisender. Wie es seine Eltern waren, seine Großeltern mütterlicherseits. Anders als er, waren sie es wider Willen. Pogrom. Die zwei „o“ so tief, als stecke das Wort im Schlund. Aber Schoenbaum holt es mit sanfter Stimme an die Oberfläche.
In einem Lager für „displaced persons“ – für Leute, denen Verfolgung und Krieg die Wurzeln genommen haben – in Admont in Österreich kam Schoenbaum 1947 zur Welt. Vier Jahre lebte er im Lager. Er kann sich an nichts erinnern. Seine Mutter wurde 1914 in Sankt Petersburg geboren. Die Eltern der Mutter waren jüdisch, hatten ein kleines Geschäft. Welcher Art? Schoenbaum weiß es nicht. Die Eltern waren „somewhat bourgeois“ – mit der australischen Färbung in seiner Stimme klingt es gesungen. Nach der Russischen Revolution wurden seine damals vierjährige Mutter und ihre Eltern nach Osten geschickt. Er will, dass „geschickt“ gesagt wird, nicht „deportiert“.
Schoenbaums Vater wiederum war ein polnischer Jude aus Wrozlaw, Breslau, der nach 1939 vor den Nazis immer weiter in den Osten floh. Im Ural lernten sich seine Eltern kennen. Seine Schwester kam fünf Jahre vor ihm noch dort zur Welt.
Seine Muttersprache: Jiddisch. Er habe sie vergessen. Wie man eine Muttersprache vergisst? Er zuckt die Schultern. „Wenn du dich ans Jiddische erinnern willst, musst du nach Deutschland“, sagte jemand. Die Tätersprache das Tor zur Muttersprache – das will einem nicht in den Kopf. Bei einer späteren Begegnung sagt er, er hätte das Jiddische nicht ganz vergessen, er benutze es, „wann ich gehe raus, wann ich gehe einkäufen“.
Schoenbaum nennt Bücher, was zusammengeheftete Bilder sind. Auf den ersten Blick sind darin nur abstrakte Farbzeichen. Wer sich einlässt, wer anfängt, darin zu lesen, entdeckt Schatten, Menschen, Orte – eigentlich ist alles drin in dem Gekritzel. Es sind Spuren. Woher, wohin? Sind Sie displaced in zweiter, in dritter Generation? „Sind wir nicht alle displaced?“, wehrt er ab.
Er war vier, als seine Eltern mit den zwei Kindern nach Australien gingen. Die hatten sich das nicht ausgesucht, „Australien hat die Eltern eben aufgenommen. Sie hätten auch zum Mars geschickt werden können.“ Seine Eltern hätten ihn in seinem Sosein gelassen. Auch daraus, dass er schwul ist, hätten sie kein Gewese gemacht. Schon als Jugendlicher zogen ihn ältere Männer an, erzählt er. Er nennt Beziehungen „romances“ – Romanzen. Roman steckt drin, Anfang und Ende. Mit 16, schätzt er, hatte er seine erste Romanze. „Ich wollte diesen Mann küssen.“ Dass er Kunst studierte hat, habe mit den „Romances“ zu tun. Die schluckten Schoenbaums Aufmerksamkeit. Außer in Kunst sei er in allen Fächern durchgefallen.
Wenn er nach der Vergangenheit gefragt wird, wird er ungeduldig. „Past is not interesting, what we do with it is.“ – Die Vergangenheit interessiert nicht, nur das, was wir damit tun. Dass er, als er in den USA lebte, mitten in die Aids-Krise kam, ganze homosexuelle Freundeskreise seiner Generation sterben sah, dass er selbst, nicht infiziert, ein Überlebender ist, was soll er mit so einer Vergangenheit anderes tun, als auch sie in Bilder einbrennen als Farbe, als Form?
Mit Kunst, mit Unterricht, mit Ausstellungen verdient er Geld. In Rom, in London, New York, Amsterdam. Eine Zeit lang verdingt er sich als Landkartenmaler. „Ich machte Bilder. Ich machte Landkarten. Ich machte Fehler.“ Welche? „Neulich machte ich wieder einen Fehler. Ich hatte eine Romanze hier in Berlin. Ich sagte, lass uns uns verloben.“ Seit er Rentner ist, lebt er von Grundsicherung, die ihm der australische Staat jeden Monat aufs Konto überweist. Er kann auch Miete bezahlen. Nicht zu hohe.
Nach Deutschland wollte er nie, aber er hatte auch nicht geplant, Kreise zu malen. Im Jahr 2000 lebte er zum ersten Mal in Berlin. Seither kommt er wieder. Eine „Romance“ half ihm, sich der Stadt zu nähern.
Kreise tauchten in seinen Bildern auf, nachdem eine „Romance“ von ihm in New York unerwartet starb. Der Freund wurde in der Kirche eingesegnet, in der er getauft worden war. Da habe sich Schoenbaum zum ersten Mal gefragt: „Wohin gehe ich zurück?“ Also ist sein Thema doch „Displacement?“ Nur mühsam lässt er sich darauf ein. Displacement sei ein künstliches Wort, von den Engländern erfunden nach dem Krieg, es habe einen negativen Ton, wie jemand, der neben der Spur ist. Auch das Wort Obdachlosigkeit mag er nicht. „Ich habe eine andere Vorstellung von dem Dach, das Obdach ist.“ Welche? Sein Körper sei sein Haus. Wenn andere ihre Heizung, ihr Dach reparieren lassen, lasse ich meine Augen, mein Herz reparieren.“ Er zeigt die Operationsnarbe auf der Brust.
Trotzdem: Da ist die Suche nach dem Anfang des Kreises. Er liegt in Europa. Ein Schiff hatte ihn und seine Familie nach Australien gebracht – „durch den Suezkanal“. Die Schiffspassage vergleicht er mit einer Geburt. Der Suezkanal der Geburtskanal, der Ozean das Fruchtwasser. Als sie ankamen, war die Nabelschnur durchtrennt.
Schoenbaum sagt, er sei jiddisch, nicht jüdisch. Er sei mit zwei Sprachen aufgewachsen, mit Jiddisch und Englisch. Die eine Sprache expandiert, der Horizont der anderen verkleinere sich. Was das mit seinem Leben zu tun hat? Es ist nur ein Detail. Am Ende wird alles zu Bildern. „Die Bilder sind meine Haut“, sagt er bei der ersten Begegnung. „Meine Bilder sind auch Heimat“, sagt er bei der zweiten. „Die Bilder werden mehr und mehr meine Romanzen“, sagt er bei der dritten Begegnung. Wo das hinführt? Nur einmal sagt er etwas, das einem Wunsch, einem Ziel, gleichkommt: Wenn er siebzig wird, will er eine Ausstellung. „In Berlin.“