Zum Wasser
Maria Lang wollte eigentlich Lesbenfilme drehen. Dann kam die Mutter dazwischen. Neunzehn Jahre pflegte sie sie. Und ihre eigenen Träume? – Angehörige zu pflegen, ist ein großes Thema. Vor allem Frauen sind da oft vor die Entscheidung gestellt, ob sie dabei ein Leben leben, das ihnen gerecht wird oder den anderen. Manchmal jedoch ist auch die Entscheidung für die anderen eine Entscheidung für sich.
Wie Virginia Woolf, die mehrstimmige Literatur schuf, die von außen sprach und innen, hat sich Maria Lang umgebracht. Virginia Woolf steckte sich Steine in die Taschen und ging ins Wasser – in den Fluss Ouse in Südengland. Am 28. März 1941. „Liebster, ich spüre genau, dass ich wieder wahnsinnig werde“, schreibt Woolf im Abschiedsbrief. Sie hörte Stimmen. „Ich kann nicht länger kämpfen.“
Mit Steinen im Gepäck hat sich auch Maria Lang ins Wasser ziehen lassen. An einem Achtundzwanzigsten. Nicht März, September. Der Todestag um sechs Monate versetzt. Und die Todesjahre 14, 41 sind ein Zahlenspiel. In die Zusam ging Lang, den Fluss bei Zusmarshausen, 25 Kilometer von Augsburg. Nichts Großes, „da können Sie durchwaten“, sagt ein Einheimischer. Im kniehohen Wasser, auch mit Steinen beschwert, wie soll das Ertrinken da gehen? „Es geht“, sagt Ute Aurand, eine Freundin. „Bedenke: Die wollen dahin.“
Wohin?
Ute Aurand hat eine Ärztin gefragt: Erfrieren sei ein schöner Tod. Man werde müde und halluziniere. Ertrinken sei nicht so schön, aber auch nicht so schlimm. „Das ist nicht wie bei uns, wenn wir uns verschlucken, ,Hilfe, ich ertrinke‘.“ Aurand sucht immer noch nach Worten. „Maria, die war eine radikale Person.“ Vier Tage bevor es geschah, besuchte sie sie in der Psychiatrie. Depression. Wie es Maria Lang ging? „Schlecht.“ Die kurzen weißen Haare, der dünne Körper. Kein Glanz in den Augen. „Maria hat sich immer Gedanken über Todesarten gemacht“, erzählen andere Freundinnen.
Aurand ist Filmemacherin. Kunstfilme macht sie, zuletzt wurden Arbeiten von ihr in London, Toronto, Barcelona gezeigt. Sie lernte Maria Lang an der Deutschen Film- und Fernsehakademie kennen, Anfang der 80er Jahre. Lang und Aurand haben Filme zusammen gedreht und Soiréen veranstaltet mit Filmen von Frauen. „Welche Regisseurinnen kennst du?“, fragt sie mit ihrer voluminösen Stimme in das verdunkelte Gästezimmer in ihrer Wohnung in Berlin, verdunkelt, weil sie gleich Filme zeigt, und zählt selbst auf: „Margarethe von Trotta, die kennt man. Helga Reidemeister, Ulrike Ottinger, Jutta Brückner – du bist gut, wenn die dir einfallen. Helma Sanders-Brahms noch, die ist auch gestorben dieses Jahr.“
Der 28. September 2014 soll ein frühherbstlicher Sonntag gewesen sein, verhangen, 15 Grad in Zusmarshausen. Am Morgen steigt Dunst auf vom Bach, der über die Wiese mäandert nicht weit von Langs Haus, in dem sie alles richtet, den Abschiedsbrief, die Papiere. Der Dunst kommt vom Wasser, das morgens wärmer ist als die Luft und alles weich zeichnet, Bäume, Häuser, die Zwiebelturmkirche auf der Anhöhe. „Jedes Land ist schön“, sagt Maria Lang in einem ihrer Filme, nicht dem ersten, „aber dieses ist sehr schön.“
Ihr erster Film, 1981/82 gedreht, heißt „Familiengruft“. Als hätte es sich erfüllt, liegt sie nun mit Vater und Mutter im Grab.
„Familiengruft“ ist ein Film über ihre Eltern. Der Vater wird beim Hasenschlachten gezeigt. Er soll, sagen die Nachbarn, keiner Fliege etwas zuleide tun können, heißt es aus dem Off, „trotzdem war er im Krieg“. Auf seinem letzten Fronturlaub wurde Maria gezeugt, im Sommer 1945 kommt sie zur Welt. Ein unpassendes, unangepasstes Kind. „Es war einmal ein Mädchen, das war sehr mißraten und es fühlte selbst, wie mißraten es war“, schreibt sie in einer biografischen Notiz. Ein Mädchen, dessen Verlangen immer größer wurde, „einmal etwas richtig zu wissen“. Das Richtige war die Liebe. Die Mutter verstand es nicht.
Die Mutter steht im Film nur in der Küche. Ihre Gedanken, ihr Tun, sagt Lang aus dem Off, hätten sich immer um Andreas, den Mann, gedreht. Sein Mittagessen, seine Launen, seine Bürgerehre. Dazwischen hatte sie ihre Arbeit, das Haus, die Kinder, „und zwischen diesem Dazwischen hat sie ihre Träume“.
Die Mutter backt einen Hefezopf im Ofen, der noch mit Holz geheizt wird. Zärtlich tätschelt sie den geflochtenen Teig, als wäre er die Haut eines frisch eingecremten Kindes. Der Film ist eine Liebeserklärung. Und eine Abrechnung. „Hunger, Mangel, Abwesenheit des Körpers ist Liebesgedicht genug für heute“, sagt Maria Lang im Film. Nicht essen, sich kasteien, tot sein – als sei alles gesagt, was noch kommt.
Langs Lebensweg: eine Nachkriegskindheit mit acht Jahren Dorfschule. Immerhin machte der ältere Bruder sie auf die Unendlichkeit des Weltalls aufmerksam, wie sie im Film sagt. Dann die Lehre zur Fotolaborantin und die Wanderschaft: Siegen, Darmstadt, Hamburg, Berlin, zählt eine Freundin auf. Fotoreporterin wäre Lang gern geworden. Irgendwann in den 60er Jahren stand sie mit ein paar jungen Frauen zusammen. Sie redeten über Sex. „Für dich gilt das nicht, du bist lesbisch“, sagte eine zur anderen. Lesbisch? Maria kannte das Wort nicht. Sie schaut im Lexikon und merkt: Das bist du auch. Ute Aurand erzählt das in ihrer Wohnung, wo jetzt der Projektor rattert.
Später macht Lang das Begabtenabitur, studiert Sozialpädagogik, findet es furchtbar und bewirbt sich Ende der 70er Jahre an der Film- und Fernsehakademie in Berlin. „Maria wollte eigentlich lesbische Spielfilme machen. Und dann ist ihr erster Film über ihre Eltern“, sagt Aurand.
Langs zweiter Film, „Zärtlichkeiten“, ist ihr einziger mit lesbischem Drama, mit Verlieben und Verlassenwerden. Ein 80er-Jahre-Dokument; so waren die damals drauf. Ein paar Jahre ist Maria Lang – die alle Freundinnen als liebenswerte Einzelgängerin beschreiben, „als eine sehr Alleinige“, und als sehr selbstbestimmt – eingebunden in die feministische Frauenszene und Lesbenbewegung, sie knüpft ein Netz. Freundinnen ja. Liebe?
Und dann, 1991, nach dem Tod des Vaters, ruft die hilflos werdende Mutter. Die Frau, über die es in „Familiengruft“ heißt: „Meine Mutter hat mich belogen und ich sie. Ich weiß nicht, wie alt ich war, als ich lernte ihre Sprache zu sprechen. Ihre Weigerung, mir irgendetwas zu erzählen, das sie mir nicht erzählen konnte, das ihre Mutter ihr nicht erzählen konnte und das ich nicht erzählen kann.“ Und Maria kommt. Bleibt.
Dezember 2014: Das Haus in Zusmarshausen ist weiß verputzt. Zwei Stockwerke, drei Fenster oben, und zwischen den zwei Fenstern unten die Tür. Im kleinen Garten blühen gelb die Primeln. Hier ist sie aufgewachsen. Hierher ist sie zurückgekehrt, um die Mutter zu pflegen, die in der Demenz entschwand, nicht sterben konnte, bis sie ihren Trotz gegen den Tod im Dezember 2008 fast 99-jährig aufgab. 19 Jahre hat es gedauert. „Es war die längste Zeit, die ich etwas gemacht habe“, soll Maria Lang gesagt haben. Und was war sie danach? „Rentnerin, gefühlt arbeitslos, auf der Suche nach Sinn“, zählt Aurand auf.
Die Nachbarin von Maria Lang ist daheim. Leute auf dem Dorf kennen sich, aber diese Nachbarin, Lisa Drößler, ist mehr. „Maria war so ein lieber Mensch“, sagt sie. Sie wusste, dass es ihr nicht gut ging. Lang aß seit ein paar Monaten nicht mehr richtig. Die Nachbarin kochte für sie mit. „Wir waren nachmittags nur zu zweit, meine Tochter und ich, da hat sich das gefügt“, erzählt sie und stellt Weihnachtsplätzchen auf den Tisch in dem kleinen Zimmer ihrer Wohnung, in dem die Miniaturlastwagensammlung ihres Mannes in einer wandhohen Vitrine steht. Dass Maria ihre Mutter so lange gepflegt hat, „und sehr liebevoll“, sagt die Nachbarin, das rechneten ihr alle im Dorf hoch an. Die Zusam übrigens, die hält sie für tückisch, die könne auch tief sein und schnell. Dass Maria Lang lesbisch war, erfuhr die Nachbarin erst jetzt. „Dabei ist man doch auch offen“, sagt sie und zeigt Richtung Tür, „da drüben wohnt ein schwules Paar.“
Ute Aurand hat zwei Filme über Maria Lang in Zusmarshausen gemacht. „Der Schmetterling im Winter“ heißt der von 2006. Er zeigt, wie Lang die Mutter aus dem Bett hebt, in den Stuhl setzt, füttert, wie sie ihr die langen weißen Haare kämmt. Jeden Tag. „Maria wollte zeigen, dass Pflege auch schön sein kann“, sagt Aurand. Im anderen Film, „Maria und die Welt“ von 1995, einem Stakkato an Bildern, blitzt das Foto von Virginia Woolf auf.
Die Depression kam plötzlich, sagen die Augsburger Freundinnen, „von heuer auf morgen“. Sie sitzen im Frauenzentrum an der Haunstetter Straße, wo Maria Lang oft war, wo sie Kurse gab, Filme zeigte. „Sie war kein ausgeglichener Mensch, aber jetzt kam sie nicht mehr auf die Füße.“ Sie drehte sich im Kreis. Was mach ich mit dem Haus? Wo will ich leben? Sie hörte auf, Tagebuch zu schreiben, das sie „Logbuch“ nannte, und das hohe literarische Qualität hat, wie die Freundinnen meinen. Ungern ging sie ins Krankenhaus, kam raus, es ging besser, ging wieder schlechter. Die Freundinnen, die Nachbarn versuchten, das Netz fester zu knüpfen, sie zu halten. Sie schaffen es nicht. Im Sommer 2014 kommt Lang in eine manische Phase, glaubt, dass sie alles bewältigen kann, macht Pläne, reißt den Boden in ihrer Küche raus, will ihn neu machen und erlebt erneut einen Absturz. Sie geht noch einmal in die Psychiatrie. An Wochenenden darf sie nach Hause. Die Freundinnen lassen sie nicht alleine. Aber an dem Wochenende um den 28. September will sie niemanden um sich. Der Nachbarsjunge sieht sie mittags noch im Hof.
Im Abschiedsbrief steht, erzählt Ute Aurand: dass der Berg zu hoch sei. Dass sie nicht mehr leben möchte. Dass sie alle noch einmal umarmen möchte. „Sie hat uns von Schuld freigesprochen“, sagt die Nachbarin.
Nachts im Dunkeln muss sie sich auf den Weg zur Zusam gemacht haben. „Schaurig“, sagt eine der Freundinnen im Frauenzentrum. Vielleicht ist sie mit ihrem Rucksack bis zum Herrenanger gegangen, dann rechts am Feld vorbei, über die Flussaue, die durchzogen ist von Bächen und Rinnsalen. Sie hat sich der Zusam genähert, diesem weiblichen Fluss, der sich versteckt. Wo, wann hat sie die Steine in den Rucksack getan?
„Im Prinzip“, sagt Ute Aurand, „kann man über Maria schreiben, was man will. Niemand wird Einspruch erheben.“